Stadtmitte
: Wo bleibt der Umschwung in der Industriepolitik?

■ Arbeitsplätze sind massiv gefährdet/ Konzepte zur Absicherung des Industriestandortes Berlin fehlen

Die Arbeitslosenzahlen in Westberlin haben mit 11,6 Prozent schon seit einem Jahr im Vergleich zu den alten Bundesländern Ost-Niveau erreicht. Westberlin sollte nach den Vorstellungen der Industriegewerkschaft Metall die WirtschaftsLokomotive für den Osten Berlins und Brandenburg werden. Doch angesichts des Abbaus der Berlin-Subventionen, der steigenden Grundstückspreise und des Konjunkturabschwungs suchen die Betriebe eher das Weite.

In den Industriebetrieben ist die Einigungseuphorie schnell verpufft. Hatte man im Westen doch genügend Erfahrungen mit der Berlin-Treue der großen Unternehmen in den siebziger und achtziger Jahren gemacht. Was sollte das neue Umland mit seinen niedrigeren Löhnen, niedrigeren Bodenpreisen und zusätzlichen Arbeitskräften bringen? Der schlagartige Abbau der Berlin-Subventionen durch Bonn verstärkte die Befürchtungen, daß es bald zu einem neuen Aderlaß an Arbeitsplätzen kommen würde.

Und im Osten Berlins? Wer im Osten hätte 1990 gedacht, daß heute, zwei Jahre später, in den meisten Betrieben nur noch zehn bis zwanzig Prozent der Arbeitsplätze übrigbleiben und ein Ende des Abbaus immer noch nicht in Sicht ist? So sind von den einst 187.000 industriellen Arbeitsplätzen heute nur noch 45.000 übrig.

Im Westen wurde dieser Kahlschlag höchstens am Rande registriert. Der noch viel zu zaghafte Protest wurde einfach als Jammerei der Ossis abgetan. Im Westen griffen bisher die Sozialpläne, die mit Vorruhestand und Aufhebungsverträgen mit Abfindungszahlungen größere Eskalationen verhindert haben. Doch die Grenze ist derzeit erreicht.

Sowohl im Osten als auch im Westen wird die Forderung der Belegschaften nach Absicherung des Industriestandortes Berlin immer lauter. Dienstleistungsmetropole, Hauptstadt und Olympia wird nicht als Programm zum Erhalt der Arbeitsplätze erfahren. Im Gegenteil, sie wirken preistreibend und verstärken durch steigende Immobilienpreise den Druck auf die Industriebetriebe, die Stadt zu verlassen.

Die Menschen erwarten von der Politik ein Gegensteuern. Dies ist allerdings zur Zeit nicht in Sicht. Der Senat als Arbeitgeber verschärft statt dessen die kritische Arbeitsmarktlage durch eigene Stellenstreichungen in den Kitas, bei der BVG, in den Bibliotheken und Krankenhäusern. Am Potsdamer Platz wird die Ansiedlung von Dienstleistungsarbeitsplätzen subventioniert, während die Vernichtung von Industriearbeitsplätzen öffentlich bedauert und gleichzeitig als notwendiger Strukturwandel akzeptiert wird. Eine Frau am Löttisch oder ein Schlosser an der numerisch gesteuerten Stanze wird schwerlich einen neuen Arbeitsplatz am Potsdamer Platz finden. Die Änderung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) wird zusätzlich 10.000 Arbeitsplätze in ABM gefährden. Dies sind gerade Projekte, die den Strukturwandel vor allem im Osten Berlins sozialverträglich unterstützen sollen.

Die Menschen wollen andere Lösungen. Die Erwartungen an die Gewerkschaften sind dabei sehr groß. Gelingt es den Gewerkschaften und den Betriebsräten hier nicht, einen Wandel in der Politik und Wirtschaft zu erzwingen, dann werden sich gerade die jüngeren nach rechts wenden. Es ist notwendiger denn je, daß alle DGB-Gewerkschaften zusammen endlich einen Umschwung in der Industriepolitik des Senats und der Bundesregierung durchsetzen. Die Berliner Betriebs- und Personalratsinitiative, der über 40 Betriebs- und Personalrats-Gremien angehören, ist ein Versuch, der Politik, der Öffentlichkeit und auch den Einzelgewerkschaften des DGB deutlich zu machen, wie ernst die Situation in Berlin ist. Gerhard Lux

Der Autor ist Betriebsratsmitglied der AEG in Marienfelde und Mitarbeiter der Berliner Betriebs- und Personalratsinitiative. Treffpunkt: jeden Mittwoch, 19 Uhr, DGB- Büro, Märkisches Ufer 28, Raum 0205.