Wohlbedachte Selbstbeschränkung-betr.: "Wider falsche Barmherzigkeit im Fall Erich Honecker" von Ralph Giordano, taz vom 23.11.92

betr.: „Wider falsche Barmherzigkeit im Fall Erich Honecker“ von Ralph Giordano,

taz vom 23.11.92

[...] Wofür, bitte, soll denn so jemandem der Prozeß gemacht werden, nach welcher Norm, Verzeihung, der Positivismus sitzt tief, nach welch – ja, was? –, nach welchen Werten soll denn geurteilt werden? Woher dieselben nehmen und nicht stehlen? Einfach aus dem Bauch? Oder, halb platonisch, die Philosophen zu Richtern, Ralph Giordano zum BGH – ich würde dann, allerdings, auch ganz gerne mitmachen.

Die vom Bundesgerichtshof mühsam herangezogene „höhere Ethik des ,Menschenrechtes‘“ kritisieren Sie, es reiche nicht, sagen Sie. Also was? Das, ich wage es kaum zu sagen, das „gesunde Volksempfinden“ etwa? Und wenn ja, welches denn? Eine positive Antwort bleiben Sie schuldig. Statt Positivismus jetzt Negativismus?

„Deutschland, deine Täter!“? Nein, genau das nicht. Als Erich Honecker und Konsorten ihr Unwesen trieben, da gab es kein „Deutschland“. Es gab die Autorität nicht, die über sie hätte wachen können. Diese jetzt nachträglich erfinden zu wollen ist verdammt gefährlich, in „Deutschland“ vielleicht noch mehr als anderswo.

Die höchste Autorität auf Erden sind die Staaten, und zwar jeder für sich. Das klägliche kleine, aber süße Thronfolgerbaby, das Völkerrecht, u.a. mit seinen Menschenrechtsidealen, steckt ganz offensichtlich noch in nagelneuen Kinderschuhen, die es bei den ersten Gehversuchen – siehe Kuwait, Kurdistan, Jugoslawien – bisher noch immer ganz schön haben hinplumpsen lassen. Uncle Sam hat so lange mal provisorisch die Vormundschaft übernommen – sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden? Aber ums Völkerrecht geht's Ihnen vielleicht nicht einmal – wäre ja doch wieder positivistisch gedacht!

Man kann diese Rolle der Staaten unerträglich finden, ich zumindest tu's, und trotzdem fällt mir nichts Besseres ein. Nicht unter den gegebenen Umständen, und die haben wir ethischen Großmeister, die wir auf dieser Erde nicht allein sind, wohl hinzunehmen, oder nicht? In meiner Phantasie schwebt wie in Ihrer, Herr Giordano, die Ethik-Diktatur. Hoffentlich bleibt sie daselbst!

Nein, so banal es sich anhört, ich bin froh, daß wir Menschen diese Kollektivitäten namens Staaten hervorgebracht haben, wenn auch nur als Übergangsstufe, damit eben nicht jeder einzelne aus dem Bauch entscheiden kann zu tun, was ihm gerade in den ebendort lokalisierten Sinn kommt. Daß dabei Raum für staatliche Willkür bleibt, verkenne ich nicht. Aber Staaten sind Rechtsordnungen, sind die zur Zeit einzig denkbare Basis für den Versuch, Recht wenigstens ein bißchen zu objektivieren.

Ich weiß, daß das so ganz nur für Rechtsstaaten zutrifft, wenn überhaupt. Aber was ist die Konsequenz? Missionieren gehen? Statt Kulturimperialismus, den haben wir Multikulturellen ja überwunden, jetzt also Ethik- beziehungsweise Rechtsstaatlichkeitsimperialismus? [...]

Und gerade noch schicken Sie den Rechtsstaat das Seelenheil der Menschheit retten, da wird er ihnen schon wieder zu lasch: Honecker soll hängen, auch als Krebsleiche. Nein, „Mein ist die Rache“, spricht der Herr, und das ist gut so. Derweil bemüht sich der Rechtsstaat, das Übel kleinzuhalten, ohne neues anzurichten. Dazu gehört auch, Halbtote nicht vors Gericht zu zerren. Der Rachestaat ist abgeschafft, auch wenn die allseitigen Bemühungen, ihn zu reanimieren, unübersehbar sind. Es gibt Gründe für den elenden Positivismus, Ralph Giordano, es gibt verdammt gute Gründe, darauf aufzupassen, daß Justiz nicht zur Lynchjustiz wird. Die Begrenzung der Mittel, die der Rechtsstaat sich auferlegt, hat zum Ziel, die Autorität nicht zur Allmacht verkommen zu lassen.

Beim Streben nach einem Ziel diese Begrenzung mal eben zu überspringen heißt mit dem Feuer spielen. Der Zweck rechtfertigt deswegen nicht die Mittel, weil die Autorität fehlt, die den Zweck verbindlich festlegen könnte. Das ist, den edlen Herzen sei's geklagt, die verdammte Relativität menschlicher Koexistenz, der rechtlichen zumal, und das Ergebnis dieser Wahrnehmung ist der Rechtsstaatsversuch, der nicht „falsche Barmherzigkeit“ walten läßt, sondern wohlbedachte Selbstbeschränkung in der Erkenntnis, nur relativ, nämlich bezogen auf ein zeitlich, räumlich und personal begrenztes Anwendungsgebiet, die ebenso relative Weisheit für sich beanspruchen zu können, nicht aber für die Menschheit an sich in Zeit und Raum. Jeder weiterfliegende Anspruch, im Recht das Ziel über die Mittel zu erhöhen, wird Sie und uns alle genau an den Punkt bringen, den Sie gerade mit Glanz und Gloria besiegen wollten: zum Stalinismus.

Lassen Sie sich nicht irre machen durch meine Worte: Sie haben recht – moralisch. Auch ich finde, daß linkes Daherlamentieren über den armen alten Honecker neben der Sache liegt, solange er noch ganz fidel auf der Anklagebank sitzen kann. Vor drei Jahren konnte er noch ganz andere Dinge. Auch die Abrede eines KZ-Bonus kann ich, ohne Ihre Autorität des Überlebenden, so unterschreiben.

Aber das Strafrecht ist kein Moralkatechismus, es ist ein Mittel der Organisation menschlichen Zusammenlebens auf der Basis von Mindeststandards. Die Moral, und das ist gut so, wird den Betroffenen nicht organisatorisch abgenommen. „Die volle Härte des Gesetzes“, wie unsere politischen Sonntagsredner immer so schön sagen, „soll ihn treffen“ von Staatesseite, aber bitte, bitte nicht mehr.

Nicht, weil ich nicht jeden, der den ersten Stein würfe, verstehen könnte. Nicht, weil ich nicht auch die moralische Unverhältnismäßigkeit von Landgerichtsanklagebank zu jahrzehntelanger Diktatur sehe. Aber weil ich ahne, daß, wenn der Staat anfinge, mit Steinen zu schmeißen, eine Lawine ausgelöst würde, unter der wir alle begraben würden. Geben Sie, Ralph Giordano, ihm diese Steine nicht in die Hand! Hannes Leonard Schloemann, Heidelberg

[...] Es ist kaum zu glauben, was der grassierende, in diesem Neuen Deutschland beinahe schon pathologische Züge annehmende Kommunistenhaß alles hervorzubringen vermag. Ralph Giordano, der Autor der „Bertinis“, der Autor von „Deutschlands zweiter Schuld“, einer schonungslosen Aufdeckung des Unrechtsgehalts politisch beeinflußter BRD-Justiz – konvertiert nahtlos zum Parteigänger eben jener Rechtsstaatsjustiz, die zahllose Naziverbrecher ungestraft laufen ließ, wird – ob gewollt oder ungewollt, mag dahingestellt bleiben – durch Quasi- Gleichstellung der DDR mit Hitler-Deutschland zum Apologeten (Rechtfertiger) einer rechtslastigen Verdrängungs- und Vertuschungsjustiz, die sich nun rachedurstig und unter Anwendung ungeheuerlicher Rechtsbeugungsmethoden an die Aburteilung jenes Mannes macht, der daran mitgewirkt hat, den Aufstieg des Deutschen Reichs zur Weltmacht um 40 unwiederbringliche Jahre zu verzögern. [...]

Ich frage mich, was in einem Mann vom Format eines Ralph Giordano vorgeht, wenn er für sich „die volle Legitimation eines Überlebenden des Holocaust“ reklamiert, den anderen (hier Honecker) gleichzeitig als Konsumenten eines höhnisch als solchen benannten „KZ-Bonus“ verspottet.

Ich habe Verständnis für den Haß eines Mannes, der der Hölle der Vernichtungslager entronnen ist, aber dieser Haß sollte ihn nicht blind machen für die Richtung, wo der wirkliche Feind steht. Rechts, Herr Giordano, immer rechts!

Man mag Erich Honecker vorwerfen, was man will, aber man sollte nicht seine Aufrichtigkeit im Kampf gegen den Faschismus in Zweifel ziehen, und Barmherzigkeit, Herr Giordano, hat Erich Honecker auch nicht nötig – er weiß, zu welchem Zweck diese Bundesregierung ihn sich aus Moskau ausliefern ließ und was diese Klassenjustiz mit ihm vorhat (kleine Anleihe bei Herrn Gremliza). Peter May, Renate Pfeiffer, Hamburg