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Ortsbesichtigung: documenta artistica

Im Erdgeschoß eines Plattenbau-Wohnblocks lagert Zirkus-, Varieté- und Kabarettgeschichte  ■ Von Anna-Bianca Krause

Glitzernd, farbenfroh und plakativ, schon der erste Blick signalisiert: Hier beginnt die Welt der Illusion. Unter gelb-blauen Baldachinen, den scheinbar unsterblichen Resten eines Zirkuszeltes, tummeln sich paillettenbestickte Kostüme und knallige Plakate, vergilbte Programme und handkolorierte Fotografien, Instrumente und Marionetten, Gemälde und Graphiken und nicht zuletzt Requisiten jeder Mach- und Materialart. Ganz ohne Tusch und Tuba riecht es hier plötzlich nach Sägespänen, die Phantasie belebt alte, längst im Gestrüpp aktueller Gedanken verlorengegangene Bilder. Überlange Schuhe, schlabbernde Hosen, die am seidenen Faden gealterter Hosenträger hängen, Tränen, die in hohem Bogen aus den Augen sprenkeln – und dieser riesige knallrote Mund, dessen überzeichnete Winkel himmelwärts zeigen. Die documenta artistica, eine räumlich ausgelagerte Abteilung des Märkischen Museums, die größte und bisher einzige Sammlung zu Zirkus-, Varieté- und Kabarettgeschichte in öffentlicher Hand, widmet zur Zeit zwei ihrer Ausstellungsräume der Spezies „Clown“. Jenen zwischen Komik und Tragik wandelnden Figuren, über deren vorgetäuschte Dummheit und perfekt inszeniertes Ungeschick seit mindestens zwei Jahrhunderten gelacht wird.

Dabei wird sichtbar, wie ungeheuer talentiert, artistisch und musikalisch versiert diese im Volksmund gerne als Spaßmacher titulierten Allroundkünstler waren und sind. Der weltberühmte Clown Grock beispielsweise, der stets in einem überdimensionalen, mit ebensolchen Karos übersäten Mantel auftrat, dieser Dr. Adrian Wettach beherrschte sieben Sprachen und beinahe jedes Instrument. Sein ausgestelltes Kostüm ist eine der wenigen Nachbildungen, die meisten anderen stofflichen Exponate konnten in konstanter Recherchearbeit als Originale identifiziert werden. In alten Artistenalmanachen, auf Plakaten und Fotos, in Programmen und Fachzeitschriften sammeln die MitarbeiterInnen Körnchen für Körnchen, bis der Beweis erbracht ist: Jawohl, das ist das Weißclown-Kostüm von François Fratellini. „Leider können wir die Kostüme nur sechs Wochen hängenlassen, und dafür benötigen wir schon eine Sondergenehmigung, da die Originale sonst in Vitrinen hängen müßten. Das aber wollten wir nicht, das bekommt dann so etwas Anonymes“, erklärt Frau Voigt, eine der sechs AusstellungsmacherInnen. Ihre innerhalb von Museumswänden eher ungewöhnliche Ansicht zementiert die Leidenschaft der Angestellten für Bühnen- und Manegenkunst, ihren Widerwillen gegen leblose Konservierungsformen. Projektleiterin Frau Dr. Freydank sagt – als habe sie selbst Hand angelegt – über die Truppe: „Sechs Wochen haben die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gebaut, das geht nur, weil sie mit dem Material völlig vertraut sind und ihre handwerklichen Kenntnisse mit einbringen. Wenn sich nicht eine Kollegin an die Nähmaschine gesetzt hätte, der Drucker nicht sehr günstig gearbeitet hätte, wäre so eine Ausstellung für uns nicht machbar.“ Die Mittel sind knapp, ohne das überschäumende Engagement aller Beteiligten wären die seit 1990 ausgestellten Schätze immer noch unter Verschluß. Jetzt sind Besucher willkommen, die zahlreichen Exponate hängen und stehen frei im Raum, wollen durch die Blicke der Betrachtenden wiederbelebt werden; nach so vielen Jahren in Kisten und Schränken könnte ein wenig Applaus nicht schaden. Als da wären: der mit Taschenspiegeln übersäte Frack, der heute jeder Avantgarde-Boutique zur Ehre gereichen würde; die ausgetretenen, schwarz-weiß gestreiften Herrenschuhe; die riesige Taschenuhr des Clowns Langer Emil; ein verstaubter Schminkkasten mit falscher Nase, viele Pluderhosen und etliche Pinsel.

Die Bestände, die 1979 vom Magistrat der Stadt einem privaten Sammler abgekauft wurden und seitdem durch zahlreiche andere Sammlungen und Schenkungen bereichert werden konnten, sind schier unerschöpflich, auf Leihgaben konnte auch bei der Clowns- Ausstellung fast vollständig verzichtet werden. „Wir haben fast mehr aussortiert als ausgestellt“, sagt Frau Ret und stöhnt ein wenig ob der konstanten und ausgiebigen Inventurarbeiten. Noch ist nicht einmal alles Material gesichtet, die Crew ist zum Beispiel immer noch dabei, die annähernd 10.000 Plakate aufzunehmen, die im Besitz der documenta artistica sind. Ein unerlaubt hinter die Türen des Archivs geworfenes Auge, dahin wo das Unausgestellte lagert, läßt den Fundus erahnen – überquellende Regale und Schubfächer offenbaren, wieviel Unterhaltungshistorie hier hineinfloß und nun der Entdeckung harrt.

Herr Hassepaß, der selbst viele Jahre Artist war, hat nicht nur eine umwerfende Detailkenntnis, er kann bei Führungen mit Schulklassen auch die Praxis gleich mitliefern – wenn es sein muß, jongliert er. Mit weisem Wissen führt er durch die verwinkelten Räumlichkeiten, die wie ein Labyrinth wirken, mußten sie doch um den Eingangsbereich des Beton-Wohnklotzes herumgebaut werden. Er lockt die BesucherInnen in eine Welt, die bevölkert ist von Radfahrequilibristen und ikarischen Darstellungen, von artistischen Großfamilien und Kleinkindern in Glitzerkostümen, Tänzerinnen und Diseusen, Kabarettisten und Komikern. Wintergarten und Bendows Bunte Bühne, Metropol-Cabaret und Carows Lachbühne: In einer Zeit, in der Varietés und Kabaretts wieder wie Pilze aus dem Berliner Boden schießen, kann die Sicht auf Vergangenes Klarheit schaffen. Zum Beispiel darüber, wieviel harte Arbeit, wieviel tägliches Training von Kindesbeinen an in diesen luftig wirkenden Unterhaltungskünsten stecken, aber auch wie viele der „altmodischen“ Ideen heute wieder recycelt werden: Die documenta artistica war nicht nur den Betreibern des neuen Wintergartens behilflich, sie steht auch allen anderen Wißbegierigen offen.

„Im Haushalt 93 sind wir drin“, Frau Voigt lacht beinahe über sich und ihren Durchhalte-Enthusiasmus, die nicht unerhebliche Miete ist gesichert, und das ist schon viel. Zuwenig allerdings, um weiterhin interessante Teilsammlungen oder private Einzelstücke ankaufen zu können und sie so vor dem sicheren Rückfall ins Reich des Vergessens zu retten. Gesucht werden deshalb jederzeit Schenkungen und Ankäufe, die keine utopischen Summen verschlingen: jedes Foto, jedes Paar Schuhe, alles, was für die Geschichte von Zirkus, Varieté und Kabarett von Belang sein könnte.

Sonderausstellung „Clowns“ bis 17.1. in der documenta artistica, Inselstraße 7, Ecke Wallstraße, am U-Bahn-Ausgang Märkisches Museum. Geöffnet: Mittwoch bis Sonntag, 10-18 Uhr, Führungen nach telefonischer Absprache.

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