: Rückblenden auf die Gegenwart
What's left im lateinamerikanischen Film? Gegenüberstellungen aus einem Vierteljahrhundert ■ Von Bert Hoffmann
Auch der „Neue Lateinamerikanische Film“ wird älter. Damals, 1969, als der Bolivianer Jorge Sanjinés „Yawar Mallku“ („Das Blut des Condors“) filmte, war die linke Perspektive noch klar: Die Sterilisationsprogramme der Yankees gegen die Frauen einer Indio-Gemeinde, die Revolte, die blutige Rache der Militärs. Die Schlußszene: Der Protagonist stirbt, sein Bruder, der in die Stadt gezogen war, zieht wieder die traditionelle Kleidung an, geht zurück in sein Dorf, findet zurück zu seinem Volk. Die Kamera fest auf seinem Blick: Entschlossenheit. Schnitt: ein Dutzend Fäuste recken Kalaschnikows in den Himmel, Standbild. Als ultimatives Finale die Silhouette der Revolution. Abspann.
Zwanzig Jahre später sieht in Jorge Sanjinés' Film „La Nación Clandestina“ („Die geheime Nation“, 1989) die Linke anders aus: Der Studentenführer irrt verloren durch die trostlose Hochebene der bolivianischen Anden, mit zerrissenem Hemd und von den Militärs verfolgt, orientierungslos, kopflos, immerzu rennend, auf der Flucht, ohne zu wissen wohin. Er trifft zwei Indios, bittet sie um Hilfe, er kämpfe doch auch für ihre Sache. Aber er spricht nur Spanisch, und sie fragen ihn auf Quechua, warum er denn so renne. Es ist eine Linke, die ihr Land nicht versteht, die nicht einmal die Sprache ihres Landes spricht. Die Soldaten kommen näher, legen an, aus der Flucht wird gelähmtes Entsetzen, „Scheiß Indios!“ schreit der Studentenführer nur noch, zwei Schüsse, dann bricht er tot zusammen.
What's left, was ist geblieben von dem großen Aufbruch des lateinamerikanischen Films in den 60er und 70er Jahren, der so eng mit der emphatischen Hoffnung der Linken eines ganzen Kontinents auf den großen sozialen Umbruch verbunden war? Parallel zu dem Iberoamerikanischen Filmfestival im spanischen Huelva, das seit dem Wochenende die neuesten Produktionen Revue passieren läßt, hat sich eine gestern zu Ende gegangene Filmreihe im Berliner Arsenal-Kino diese Rückblende auf die Gegenwart zum Thema gemacht: An neun Abenden wurde je ein Film aus jener Zeit des Aufbruchs einem aktuellen Film aus dem gleichen Land gegenübergestellt, ein Zeitraffer-Effekt, der Brüche und Wandlungen in den Gesellschaftsentwürfen des lateinamerikanischen Films sichtbar machte.
Das Nuevo Cine hatte den „Film als Waffe“ proklamiert. Und, wie um sich der Erfüllung dieses Postulats zu vergewissern, wurden die wirklichen Waffen zu einer Art Leitmotiv des Films: die erhobenen Spitzhacken der Bauern, die Karabinergewehre der frühen Rebellen, die Kalaschnikow der Guerilla. Sein mit christlicher Symbolik beladenes Helden-Epos „La tierra prometida“ („as gelobte Land“ war für den chilenischen Filmemacher Miguel Litti 1973 nicht weniger als „ein Angriff auf das kapitalistische System, ein Aufruf zur Revolution, ein Appell, die Macht zu ergreifen, und zwar mit Waffengewalt“. Der historische Kontext – der Kampf arbeitsloser Landarbeiter und die kurzlebige Ausrufung einer sozialistischen Republik Anfang der 30er Jahre – war die Folie, auf der Position bezogen wurde in der Debatte der damaligen Gegenwart: de sozialistische Regierung Allende, die in Chile 1970 die Wahlen gewonnen hatte. Hier wollte der Film eingreifen, radikalisieren, so wie sich der Arbeiterführer im Film nicht mit der erfolgreichen Landbesetzung zufriedengibt, sondern mit seinen Leuten in die Stadt zieht, um dort die revolutionäre Regierung zu errichten: „Wir haben ein neues Evangelium: Ergreift die Waffen!“ – 1973 ist bei Littin ein solcher Satz ungebrochen. Er meint, damit „die kulturellen Traditionen des Volkes“ aufzugreifen, und nimmt nicht wahr, wie damit auch seine Lösung, bewaffneter Kampf, zur quasi-religiösen Heilslehre mutiert.
Am Ende des Films steht die Niederlage, der Kult der großen heroischen Niederlage als Versprechen für die Zukunft: Die Rebellen werden niedergemetzelt, christusgleich treibt die Leiche eines erschossenen Arbeiters auf dem Fluß davon. Das in die Vergangenheit verlegte Pathos sollte die Siegesgewißheit der Gegenwart stärken. Doch im Rückblick erscheint die blutige Niederlage des Films nur als makabres Vorspiel der noch blutigeren Niederlage in der Wirklichkeit: Noch im gleichen Jahr, in dem Littin sein „Gelobtes Land“ fertigstellt, putscht das Militär unter Pinochet und zerschlägt die Hoffnungen der Allende-Zeit mit tausendfachem Mord.
Zwölf Jahre später sucht der chilenische Filmemacher Gonzalo Justiniano keinen neuen Aufbruch in bessere Welten, als er nach achtjährigem Exil nach Chile zurückkehrt. Das Interesse seines Films „Hijos de la guerra fria“ („Kinder des Kalten Krieges“) richtet sich nicht auf neue „revolutionäre Subjekte“, sondern auf jene Mittelschicht, die „die wichtigste Stütze für den Putsch von Pinochet“ war, wie der Regisseur sagt, jene Leute, „die sich nur für ihre kleine Geschichte interessieren (die durchaus Respekt verdienen kann), die sich mehr Sorgen über den Tod ihrer Katze machen als über die Atombombe“. Die Realität der Gewalt im Chile Pinochets ist immer wieder präsent, in vereinzelten Gewehrschüssen oder wenn Geheimpolizisten drei Jugendliche aus dem Restaurant zerren. Doch Gaspar und Rebeca, die beiden Protagonisten, essen weiter, flirten verklemmt, beginnen hier ihre hilflose Liebesgeschichte. Am Ende, als Gaspars sozialer Aufstieg wie eine Seifenblase zerplatzt, verliert er jeden Halt in der Realität, irrt er schließlich verrückt in der steppenartigen chilenischen Wüste umher, noch verlorener, so scheint es, als der linke Studentenführer in Jorge Saijinés' „La Nación Clandestina“.
Deutlicher noch zeigt sich der Bruch mit der Tradition des alten „neuen Films“ bei dem Kolumbianer Jaime Osorio. Hatte er 1974, nach dem Putsch Pinochets, noch einen Dokumentarfilm mit dem programmatischen Titel „Chile no se rinde, carajo!“ („Chile ergibt sich nicht, verdammt!“) produziert, so hält er nun die Zeiten für vorbei, in denen ein Film stets die ganze Geschichte eines Landes aufrollen und den Weg in die Zukunft weisen muß. Wo einst die Revolution als politischer Horizont am Ende der Filme stand, steht sie 1990 bei seinem Film „Confesiones a Laura“ („Bekenntnis an Laura“) am Anfang: Doch der große Volksaufstand von Bogota 1948 – diese „Revolution“, wie ein Nachrichtensprecher aus dem Off die dokumentarischen Schwarzweiß-Aufnahmen am Filmanfang kommentiert – ist nur ein im Grunde beliebiger äußerer Vorwand, der in den spießbürgerlichen Alltag eines Ehepaars einbricht. Osorio will, wie er erklärt, „ein Kino, das unsere Individualität, unsere Persönlichkeit und unsere Gefühle durchforscht“. Ihm geht es um die normalen, durchschnittlichen Menschen, nicht um die Helden. Der Mann, Santiago, sollte nur kurz eine Geburtstagstorte zu der Nachbarin gegenüber, der „alten Jungfer“ Laura bringen. Doch dann trennen die Scharfschützen auf der Straße und die Ausgangssperre das Ehepaar – Santiago muß bei Laura übernachten, und der durch die Ausnahmesituation geschaffene Abstand zu seiner Frau läßt ihn ein Stück weit seine eigene Persönlichkeit wiederentdecken, die in der Umklammerung einer in 20 Jahren versteinerten Ehe verlorengegangen war. Am Ende vermeldet das Radio, daß die Regierung den Aufstand niedergeschlagen und die Ordnung wiederhergestellt hat. Nur auf der persönlichen Ebene, für Laura und vor allem für Santiago, hat wirklich eine Änderung stattgefunden.
Höhepunkt der Filmreihe im Berliner „Arsenal“ waren allerdings ohne Frage die kubanischen Filme: „La muerte de un burócrata“ („Der Tod eines Bürokraten“, 1966) des großen kubanischen Filmemachers Tomás Gutiérrez Alea, und vor allem die zwei ausverkauften Vorführungen von „Alicia en el pueblo de Maravillas“ („Alicia im Dorf der Wunder“, 1991) von Daniel Diaz Torres, jener beißenden Filmsatire, die in Kuba zu dem größten Kulturskandal der letzten Jahre geführt hat und bis heute verboten ist.
Ins Auge stach der Kontrast zu den anderen lateinamerikanischen Filmen: Wo jene mit revolutionärem Pathos zum Sturm gegen die herrschenden Verhältnisse bliesen, setzen „Der Tod eines Bürokraten“ und „Alicia“ subversiven Humor gegen das revolutionäre Pathos – und die Pathologie – der kubanischen Verhältnisse. Und wo im übrigen Kontinent die Kritik der Gesellschaft im Medium Film über die Jahre an Aggressivität verlor, zeigen die kubanischen Filme das Gegenteil: „Der Tod eines Bürokraten“ hatte in spitzer Form die Bürokratisierung als gesellschaftlichen Defekt angegriffen. Ein Vierteljahrhundert später ist „Alicia“ der Zerrspiegel einer ganzen Gesellschaft, die zum Alptraum geworden ist. In dem Film von 1966 war die Nervenheilanstalt, in die der Protagonist nach seinem Kreuzzug durch die Bürokratie schließlich eingewiesen wird, die letzte Instanz, die am Rande der Gesellschaft droht. 1991 ist das „Dorf der Wunder“, in das Alicia gerät, ein einziges Irrenhaus, in dem der Sanatoriumsdirektor es noch als Errungenschaft preist, daß hier alle – Gesunde wie Kranke – gleich behandelt würden. Tötet im Film von Gutiérrez Alea, die Hauptperson, am Ende einen mittleren Bürokraten, so stürzt die verzweifelte Alicia niemand geringeren als den Direktor selbst in die Schlucht.
Indem „Alicia“ die Probleme und Deformationen der kubanischen Gesellschaft ins Absurde steigert, legt der Film sie in ihren Strukturen bloß. Er erreicht damit eine Schärfe (im doppelten Sinne des Wortes: sowohl Radikalität wie auch Genauigkeit) der Kritik, wie sie in Kuba bislang kein anderes Medium erreicht hat. Sein Verbot machte „Alicia“ zum Symbolfall für das politische Tauziehen um die Freiräume der Kultur und der Meinungsfreiheit auf der sozialistischen Insel. Bislang siegt die Macht: Der Direktor des Filminstituts, Julio Garcia Espinosa, wurde geschaßt, weil er „Alicia“ nicht verhindert hatte, der Film wurde aus dem Verkehr gezogen.
Da das Verbot von „Alicia“ auch für Vorführungen im Ausland gilt, war es eine mittlere Sensation, daß der Film nun zum ersten Mal seit seinem Verbot wieder in Deutschland gezeigt werden durfte – wenn auch nur für zwei Tage.
Es seien dies erste „Schritte im Prozeß einer Normalisierung“ im Umgang mit dem Film, so die Hoffnung von Regisseur Daniel Diaz. An deren Ende müsse natürlich stehen, so Diaz, daß der Film ganz normal wie jeder andere in kubanischen Kinos zu sehen sei.
Doch bis dahin, so scheint es, ist noch ein weiter Weg. So darf „Alicia“ zwar diese Woche auch während des Festivals des Iberoamerikanischen Films in Huelva gezeigt werden – zum ersten Mal in Spanien. Doch eine Teilnahme an internationalen Wettbewerben läßt der „Prozeß der Normalisierung“ noch nicht zu. Für Huelva fanden Havannas Filmgewaltige eine denkbar elegante Lösung: Sie nominierten den „Alicia“-Regisseur Daniel Diaz kurzerhand für die Jury – so daß „Alicia“, leider, leider, nur außer Konkurrenz laufen kann...
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