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Die Stunde der Volkstribunen?

■ „Die Kraft einer Bewegung mißt sich nicht in Wählern“, verkündet Marco Pannella, Italiens erfolgreichste Politnervensäge/ Charisma als Ersatz für Wahlprogramme

An Propheten, die der politischen Landschaft Europas einen radikalen Wandel vorhersagen, herrscht kein Mangel: aus dem Zerfall der großen Parteien, so die gängige These, würde vor allem der Typ des programmlosen Showman profitieren, der sich am besten „verkaufen“ läßt und nahezu beliebig austauschbar ist. Der edle Herrscher also, oder, wenn noch in Opposition, der Volkstribun und Sachwalter jener Schichten, die sich von der aktuellen Regierung benachteiligt fühlen und daher für Versprechen noch unverbrauchter Gesichter anfällig sind.

Da können die Italiener nur müde abwinken. Zwar geht es ihren Großparteien miserabel, hat keine mehr Aussicht auf auch nur ein Viertel aller Wähler, und die Clinton-Wahl hat auch hier den Ruf nach dem „vertrauenswürdigen Gesicht“ laut werden lassen – US-Zeitungen schreiben bereits von der italienischen „Clintiadis“. Doch an Volkstribunen hat es Italien seit der Antike nie gefehlt, konservativen wie progressiven, von den Gracchen über Cola di Rienzo und Savonarola bis zum berühmtesten unserer Zeit: Marco Pannella. Der hat es fertiggebracht, bei den letzten Wahlen mit einer Liste ins Parlament einzuziehen, die ausschließlich seinen Namen trägt: „Lista Pannella“. Neben ihm sind immer wieder neue Tribunen aufgetaucht, der ehemalige Bürgermeister von Palermo, Leoluca Orlando zum Beispiel, der eine Antimafia-Partei leitet, oder der Verfassungsreformer Mario Segni, ein Dissident der Christdemokraten, oder auch der derzeit höchst erfolgreiche Chef der norditalienischen Ligen, Umberto Bossi. Doch was Wirksamkeit mit sparsamsten Mitteln betrifft, kommt an Pannella keiner heran.

Dabei hat der heute 62jährige Pannella mit seiner „Radikalen Partei“ in der Regel ein, höchstens zwei Prozent der Wählerstimmen erhalten – und auch dies oft nur, weil er KandidatInnen in seine Liste aufnahm, die gerade berühmt waren: den wegen angeblich terroristischer Tätigkeit eingelochten Paduaner Professor Toni Negri oder Pornostar „Cicciolina“, Ilona Staller. Aber er ist mit seiner jeweiligen Gruppierung (er wechselt sie häufig, große interne Konkurrenz mag er nicht) fast durchgehend eine politische Größe gewesen. „Sicher profitieren kleine Gruppen vom Zerfall oder auch nur den ideologischen Krisen der Großen“, sagt er, „und das ist unabhängig, ob – wie in den letzten Jahren – die KP kaputtgeht oder – wie heute – die Christdemokratie: politischer Einfluß mißt sich eben nicht in Wählerstimmen.“ Und das gilt, so Pannella, „auch für die ganz stinknormalen Anliegen des einfachen Menschen – man muß sie nur auftun und entsprechend darlegen“.

Darin ist er Meister – und gerade darum kann man ihm nicht vorwerfen, programmlos zu sein: hätte er nicht in den siebziger Jahren mit allerlei Referenden gedroht oder diese tatsächlich durchgesetzt, es gäbe in Italien vielleicht noch heute weder Ehescheidung noch legale Abtreibung, und die Atomkraft wäre noch immer auf dem Vormarsch.

Dies alles schafft Pannella natürlich nicht alleine – doch er bringt es fertig, so viel Wind zu erzeugen, daß selbst große Parteien Angst vor den Folgen bekommen und dann meist, zumindest in Teilen, auf Pannellas Vorschläge aufspringen. „Die Macht liegt wirklich beim Volk“, sagt er, „es kommt darauf an, daß man sie bündelt und den Mächtigen die Türe eintritt.“ Intern geben auch die Manager der Großparteien zu, daß „ein Gutteil unserer Programme tatsächlich nicht von uns geschrieben wird, sondern von Pannella“. Dabei legt er sich keineswegs nur mit den regierenden Großen an. Derzeit leiht er bei Abstimmungen, der knappen Regierungsmehrheit seine Stimmen. Nicht, weil er mitregieren will, sondern weil er „heute in der zerstrittenen, karrieresüchtigen Opposition das große Hindernis für die Beendigung der italienischen Dauerkrise“ sieht.

So gesehen, wäre es nicht übel, würden derlei Volkstribunen auch anderswo in Europa auftreten. „Das Problem“, so Pannella in nachdenklichen Momenten, „tritt erst dann auf, wenn sie tatsächlich an die Regierung kommen.“ Werner Raith

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