: Alter Wein in alten Schläuchen
■ „Die weiße Garde“ — Erster Band der Berliner Bulgakow-Gesamtausgabe
Tristes Grau bestimmt den Umschlag des eben erschienenen Bandes „Die weiße Garde“ (Gestaltung Lothar Reher) – inmitten der von optischen Reizen überfluteten Buchlandschaft könnte es sogar auffallen. Noch auffallender aber ist die Ambitioniertheit des Projekts insgesamt, das als „Gesammelte Werke“ in dreizehn Bänden, als die „erste werkgetreue Bulgakow-Ausgabe in deutscher Sprache“ präsentiert wird. Bis zum September 1995 sollen jährlich vier Bände folgen. In der Tat sind Publikationen geplant, die im deutschsprachigen Raum ihresgleichen suchen, und man kann nur hoffen, daß der Verlag den notwendigen langen Atem für diese Gesammelten Werke haben wird.
„Die weiße Garde“ gehört zu den seit langem bekannten Werken Bulgakows. Der 1923/24 entstandene Roman gestaltet das Ringen der Kiewer Intellektuellen- Familie Turbin um die Bewahrung der eigenen Identität in den Verwerfungen des Bürgerkriegs 1918/19. Er ist 1925 teilweise und 1927/29 vollständig in russischer, 1969 erstmals in deutscher Sprache (Übersetzung: Larissa Robiné) ediert und seither mehrfach neu aufgelegt worden. Überraschungen scheinen daher kaum möglich. Dennoch annonciert der Verlag Unerwartetes: die Ausgabe enthalte „die noch nie veröffentlichten, erst jetzt aufgefundenen und als sensationelle Entdeckung bewerteten Schlußkapitel der Urfassung des Romans“. Deren Geschichte klingt ebenso mysteriös wie rußlandtypisch: nachdem schon 1987 Fragmente aus dem Schlußkapitel aufgefunden worden waren, habe ein Moskauer Sammler in einem Antiquariat eine Mappe von Manuskripten erworben, die sich als die Schlußkapitel der 1925 bei der Zeitschrift Rossija eingereichten Fassung erwiesen; der Redakteur Leschnew hatte ihre Rückseite für eigene Aufzeichnungen benutzt ...
Die unbekannten, von Thomas Reschke übersetzten Passagen in „Die weiße Garde“ stammen aus einer Zeit, als der Roman noch als Trilogie konzipiert war. Sie knüpften Handlungsknoten, die später erst entwickelt werden sollten. In der offiziell sanktionierten Pariser Fassung von 1927/29 hat Bulgakow diese aus kompositorischen Gründen gestrichen, wie auch Szenen mit „antibolschewistischen“ Aussagen, von denen der Herausgeber im Nachwort behauptet, sie widersprächen Bulgakows eigener Position. Die Urfassung nun verschafft uns die wichtige Erkenntnis, daß Traumsequenzen der Figuren, deren Ursprung im Jahr 1929 vermutet wurde, bereits zuvor existierten. Gleiches gilt für die am Ende formulierte Überzeugung, Leiden, Qualen, Hunger, Blut und Massensterben seien nicht zu fürchten, da sie vorübergehende Zustände darstellten.
Dem Bulgakow-Roman folgt das unvermeidliche Nachwort, ein zu DDR-Zeiten zur Textsorte gewordener Versuch, umstrittene Autoren und Werke zu erläutern, en passant für das Leseland DDR zu „entgiften“ und publikationswürdig zu machen. Auch der Verlag Volk & Welt hat durch einige unrühmliche Beispiele diese Textsorte bis ins Jahr 1989 hinein mit profiliert. Diese Tradition wird auch in „Die weiße Garde“ leider fortgesetzt. Das mag nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß der alte Herausgeber und Bulgakow- Kenner Ralf Schröder auch der neue ist. Gewiß, heute schreibt er nicht mehr „Bulgakows Roman Die weiße Garde – Der Zerfall einer Familie als weltgeschichtlicher Epilog und Prolog“, sondern „Literaturgeschichtliche Anmerkungen“. Die apodiktisch vorgetragene Lesart aber bleibt. Darüber hinaus hinterlassen auch seitenlange Zitate aus publizistischen Quellen im Umfeld des Romans, ermüdende Betrachtungen zur Tolstoi- und Dostojewski-Rezeption und zum „Verständnis der Zukunftssicht, die Bulgakow parabelhaft in sein Werk hineingeheimnist hat“, einen schalen Nachgeschmack. Anmerkungen im traditionellen Sinne wären einer Edition, die „werkkritisch“ zu sein vorgibt, weitaus angemessener gewesen. Angesichts des brüchigen Buchmarkts und eines Subskriptionspreises von etwa 576 Mark für die Gesamtausgabe bleibt insgesamt die Frage, ob es nicht sinnvoller gewesen wäre, die 1991 abgeschlossene Ausgabe um vier oder fünf Bände zu ergänzen.
Bei aller Kritik soll jedoch schließlich nicht unerwähnt bleiben, daß der Verlag dem ersten Band der „Gesammelten Werke“ die 1981 aufgezeichneten Erinnerungen von Bulgakows erster Frau, Tatjana Lappa, zur Seite stellt. Hier werden Interpretationen biographischer Details präzisiert, andere als Fiktion entlarvt. Gerade zur frühen Biographie Bulgakows und zur Situation, in der „Die weiße Garde“ entstand, hat Tatjana Lappa zahlreiche neue Fakten zu berichten. Dagmar Kassek
Michail Bulgakow: „Die weiße Garde“. Gesammelte Werke Band1. Aus dem Russischen von Larissa Robiné, Volk & Welt Berlin 1992, 420 Seiten, 48 DM
Tatjana Lappa: „Zeugnisse vom äußeren Leben. Bulgakows erste Frau im Gespräch mit Leonid Parschin“. Aus dem Russischen von Ch. Kossuth, Volk & Welt Berlin 1992, 164 Seiten, 38 DM
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