Fragmentarische Welt

Ein modernes Epos über Geschichte und Natur: Claude Simons Roman „Georgica“  ■ Von Brigitte Burmeister

Es beginnt mit der Beschreibung einer Bleistiftzeichnung in der akademischen Manier des ausgehenden 18. Jahrhunderts. In einem Raum zwei Männer. Der ältere sitzt an einem Schreibtisch, den Blick auf das Blatt Papier in seiner Hand geheftet. Der jüngere, stehend, drückt einen rechteckigen Karton an sich. Beide sind nackt. Das Ensemble weißer Flächen und grauer Linien enthält einige sorgfältig kolorierte Stellen. Die Gesichter der beiden, die Hände des Älteren sind ausgemalt wie auch das täuschend echte, in rostfarbener Tinte beschriebene Papier.

Nach diesem kargen Vortext eine abenteuerliche Lebensgeschichte: diejenige eines Mannes, der während der Französischen Revolution, im Alter von achtunddreißig Jahren, in die Nationalversammlung gewählt wird. Der Berg- Partei zugehörig, stimmt er für die Hinrichtung Ludwigs XVI. In den Kriegen, die die österreichisch- preußische Koalition gegen das republikanische Frankreich führt, erwirbt er hohe Verdienste und wird zum General ernannt. Er stimmt für die Todesstrafe gegen alle Emigranten, die nach Frankreich zurückkehren und dort mit Waffen in der Hand angetroffen werden. Auf Korsika leistet er den Aufständischen um Paoli und der sie unterstützenden englischen Flotte Widerstand. Den Befehlshabern der Revolutionsarmee schärft er ein, keinen Schritt hinter die Maas zurückzuweichen. In der Gesetzgebenden Versammlung läßt er über ein Dekret abstimmen, das jeden Befehlshaber, der einen belagerten Ort dem Feind ausliefert, mit dem Tod bedroht. Auf dem Höhepunkt des revolutionären Terrors, im Frühjahr 1794, rettet er eine Royalistin, die er schließlich heiratet. Von Robespierre und anderen Mitgliedern des Wohlfahrtsausschusses der Nachsichtigkeit beschuldigt, bewahrt ihn der Sturz der Jakobiner im Juli 1794 vor einer Verurteilung. Unterm Direktorium verteidigt er die Anhänger Babeufs und wird Botschafter am Hof von Neapel. Er nimmt teil am Napoleonischen Feldzug gegen Belgien, Holland, die Schweiz. Als Chefkommandant im italienischen Feldzug von 1804 erleidet er bei Verona eine schwere Beinverletzung. Er beteiligt sich am Preußenfeldzug, dann am Krieg gegen Spanien. 1811 wird er Militärgouverneur von Barcelona.

Während der 20 Jahre seiner politischen Tätigkeit, von allen Kriegsschauplätzen aus, an die ihn die Geschichte quer durch Europa führt, schreibt er Briefe an Batti, die Verwalterin seiner Güter, überwacht und regelt er aus der Ferne deren Bewirtschaftung. Er kehrt schließlich auf sein Schloß zurück, als ihn die Folgen eines Schlaganfalls zwingen, den Dienst zu quittieren. Zum Offizier der Ehrenlegion ernannt, verbringt er das letzte Lebensjahr krank und zurückgezogen, auf Battis Pflege angewiesen. Er stirbt 1812, zwei Jahre vor dem Zusammenbruch der Napoleonischen Armee. Unter der Restauration richtet seine Witwe ein Gesuch an Ludwig XVIII., in dem sie darum bittet, die Eingenommenheit gegen den Namen, den sie trägt, zu vergessen. Dieser Name, der immer nur in den Initialen L.S.M. auftaucht, ist (wie Claude Prévost herausgefunden hat) der einer authentischen Figur: Lacombe Saint-Michel.

Claude Simon (geb. 1913, Literaturnobelpreis 1985) bezieht sich auf historische Realität – und nicht allein an diesem Punkt. Die Geschichte von L.S.M. wird verflochten mit Revolution und Kriegsgeschehen in unserem Jahrhundert.

Zwei junge Männer: Der eine („O.“: hinter ihm erkennt man George Orwell, dessen Tagebuch Mein Katalonien Simon offensichtlich als Material diente), ein englischer Intellektueller, kommt im Herbst 1936 nach Spanien, tritt der Miliz der linkssozialistischen Partei POUM bei, kämpft im Winter an der Front in Aragón, wird am Hals verwundet, erlebt während des Frühsommers 1937 die anarchistische Erhebung in Barcelona und ihre Niederschlagung – den Krieg im Inneren des republikanischen Lagers –, wird von der Polizei verfolgt und kann durch Flucht seiner drohenden Hinrichtung entgehen. Der andere („er“: hinter ihm erkennt man Simon selbst) ist Kavallerist im Zweiten Weltkrieg.

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Er erlebt den furchtbaren Winter 1939/40 wie in einer Leichengruft, die Eiseskälte ist Anzeichen einer erstarrten Zukunft. Im Frühjahr 1940 zieht er sich mit den französischen Truppen aus Belgien zurück über die Maas, deren Brücken dann gesprengt werden, reitet Tag und Nacht, durchquert mehrmals dieselben flandrischen Dörfer. Seine Schwadron wird von deutschen Flugzeugen fast vollständig vernichtet. Er selbst kommt in Kriegsgefangenschaft, ihm gelingt die Flucht.

Dieser Strang des fünfteiligen Romans ist mit der Geschichte von L.S.M. auch über die Personen verbunden. Die Großmutter von „er“, so erfährt man, „hatte zum Großvater den Sohn eines Mannes, der in ihren Augen der Mörder seines Bruders war“. Der royalistisch gesinnte jüngere Bruder von L.S.M. wurde nach dem erwähnten Gesetz gegen die Emigranten als eines seiner letzten Opfer wenige Monate vor dem Brumaire erschossen. Der ältere habe – berichtet „Onkel Charles“, von dem „er“ den schriftlichen Nachlaß des großen Ahnen erhält – nie über diesen Tod und nicht mehr von seinem Bruder gesprochen. Die Nachfahren zogen Nutzen aus dem Verkauf des Schlosses von L.S.M. und aus seinem Namen, „von ihnen allein auf die Resonanzen beschränkt, die sie als schmeichelhaft beurteilten, darauf, was er an Macht, Schlachten und Goldenem hervorrief“. Das andere aber – Revolution und Königsmord und Terror – wurde als eine Art Familienschande verschwiegen und verdrängt. Was diese Nachkommen aus ihrem Gedächtnis strichen, unter Verschluß hielten, ist dennoch nicht verloren, es wird schließlich erzählt.

Nun ist „erzählen“ hier vielleicht ein irreführendes Wort, wie auch eine Inhaltsangabe zwar möglich ist, aber der Beschaffenheit des Textes zuwiderläuft, indem sie seine Komplexität unterschlägt, seine Sprünge, Fusionen und Kreisbewegungen auf Linie bringt. Auch wenn sich die einzelnen Stränge auseinanderhalten lassen die Ordnung des Textes ist wesentlich achronologisch und antihierarchisch. Es herrscht eine ständige, intensive und unerlöste Gegenwärtigkeit der Erinnerungsbilder und Geschehnisse, die sich weder im Zusammenhang einer Geschichte entfalten noch darin zur Ruhe kommen. Beschreibungen von unerhörter Eindringlichkeit lassen eine fragmentarische Welt entstehen, deren Bewegungsgesetz allenfalls die Wiederkehr des Gleichen, der Zyklus ist.

„Georgica“ suggeriert, wie alle Romane von Simon, einen schmerzhaft engen Zusammenhang zwischen Geschichte und Natur, hier schon in den Titel eingeschrieben, der auf den antiken Preisgesang bäuerlicher Arbeit in Vergils berühmtem Lehrgedicht verweist. Dabei ist die Natur nicht nur Lebensbasis, Gegenstand und Schauplatz menschlicher Arbeit, sondern auch Schlachtfeld und Terrain periodisch sich wiederholender Truppenbewegungen. Im Grunde sei er ein Bauer gewesen, sagt „Onkel Charles“ vom Soldaten L.S.M., und daß Werke der Zerstörung und der Reproduktion ähnliche Eigenschaften erforderten: „Ich spreche von jenem ewigen Wiederbeginn, jener unermüdlichen Geduld oder gar Leidenschaft, die es möglich macht, immer wieder an dieselben Orte zurückzukehren, um die gleichen Arbeiten zu verrichten.“ Mit einer scheinbar ans Absurde grenzenden Hingabe. Er sage „scheinbar“, erklärte Simon in einem Interview, denn tatsächlich glaube er „weder an das Absurde noch ans Lächerliche, sondern daran, daß alles, was geschieht, seine raison d'être hat“.

Einen Daseinsgrund – keinen Sinn. Nach Simon ist die Sinnlosigkeit der Welt auszuhalten, was etwas anderes ist als zu resignieren oder sich zu unterwerfen. Eine gelebte Haltung: Simons Biographie steht dafür ein, seine literarische Arbeit ebenso.

Mit „Georgica“ hat Simon sein Hauptwerk geschaffen: Wiederaufnahme, Wiederdurcharbeitung des Stoffes aus früheren Büchern; einen Roman, den man monumental nennen möchte, weckte das Wort nicht eben jene Vorstellung von Geschichtsdenkmälern, die der Text, durch alle Windungen und Klammern seiner langen Satzperioden hindurch, beharrlich untergräbt.

1981 in Paris erschienen (und vor zehn Jahren beim Ostberliner Aufbau-Verlag am Übersetzungsproblem gescheitert), liegt das Buch nun auf deutsch vor. Dank den Übersetzerinnen und dem Verlag.

Claude Simon: „Georgica“ (Roman). Aus dem Französischen von Doris Butz und Trésy Lejoly, Rowohlt-Verlag, 1992, 500 Seiten, 58 DM

Brigitte Burmeister ist Romanistin und lebt als freie Schriftstellerin und Übersetzerin in (Ost-)Berlin. Ihr Roman „Anders“, von der Kritik als „nouveau roman der DDR“ charakterisiert, erschien 1987 in der DDR, 1988 in der BRD.