: Nichts zu lachen im Kinderzirkus
Mit Svetlana Boginskaya gewinnt die einzige erwachsene Turnerin den DTB-Cup/ Verschärfte Diskussion um Kinderquälerei im Kunstturnen ■ Von Thomas Schreyer
Stuttgart (taz) – Ex-Weltmeister Andreas Aguilar sprach aus, was viele dachten: „Ich freue mich, daß eine Turnerin gewonnen hat, die nicht nur eine Frau ist, sondern auch wie eine Frau aussieht.“ Svetlana Boginskaya, die knapp 20jährige aus Minsk, hat das oberste Treppchen beim Internationalen DTB-Pokal in Stuttgart erobert. Keine kam ihr nach, denn Boginskaya ist an Anmut und Ästhetik, an Grazie und Ausdruckskraft nicht zu übertreffen.
Die „Große“ unter den Kleinen kann nur mit ihren international fast zu leichten akrobatischen Elementen übertrumpft werden. Doch am Ende einer langen Wettkampfsaison hatten ihre Konkurrentinnen auch hier nichts mehr entgegenzusetzen. Und welch andere Turnerin stellt sich nach der Siegerehrung hin und sagt mutig: „Die Anforderungen waren nicht sehr hoch, deshalb habe ich gewonnen.“Svetlana, die „Erleuchtete“, kann das. Ihr fällt dabei keine Perle aus der Krone. Sie ist intelligent und keine Repräsentantin des heutigen Kunstturnstils. War Boginskayas Sieg in Stuttgart eine Art letzter Triumph des Frauenturnens über das Kinderturnen? „Ich fände es auch besser, wenn das Wettkampfalter von 14 auf 16 Jahre heraufgesetzt wird“, meinte die Königin einer Sportart, die so ästhetisch sein kann wie kaum eine andere, momentanjedich zum Kinderzirkus verkommen ist.Ein Kinderzirkus mit Beinamen Kinderqual. Die Initiative des Veranstalters des 10.DTB-Pokals, das Wettkampfalter auf 16 Jahre hochzusetzen, ist gut gemeint. Alleine dies jedoch kann die Kinderquälerei nicht stoppen. Die Siegerin von Stuttgart muß bei Weltmeisterschaften mit Mädchen konkurrieren, denen gerade die Milchzähne ausgefallen sind. Das Alter war manipuliert. In Stuttgart waren zwei 16jährige Rumäninnen, die beide nicht lachen konnten. Welt- und Europatitel konnten Lavinia Milosovici und Mirela Pasca schon sammeln, Lebenserfahrung indes nicht. Sie werden als dumm verkauft, leben wie in einem Gefängnis und der Trainer Belu Octavian, der seine beiden Schützlinge als „frei“ bezeichnet, tönt bei einer Pressekonferenz, daß „Kinder- Turnen schöner als Kinder-Prostitution“ sei. Lastwagenfahrer beispielsweise müssen nach einer langen Fahrt eine Pause einlegen. Turn-Kinder dagegen werden bis ans Ende ihrer Kräfte ausgenutzt. Die Rumäninnen kamen völlig entkräftet von Turnieren aus Frankreich bzw. Japan und hatten keine Verschnaufpause. Weder die Vorjahressiegerin Milosovici noch Pasca konnten die Erwartungen erfüllen. Unfrohe Kinder, zu Höchstleistungen gezwungen, die weder ihrem Alter noch ihren eigenen Wünschen entsprechen, passen nicht zu dem Stil einer Svetlana Boginskaya, die nicht mehr wie ein kleiner Wirbelwind über und um die Geräte saust.
Doch das ist die Entwicklung, der das Kunstturnen zur Zeit zum Opfer fällt. Wie anders ist es zu erklären, daß lediglich um den heißen Brei geredet wird (Änderung des Wettkampfalters), statt die Wertungsvorschriften zu ändern? Ein paar Boginskayas mehr und – nicht nur in Stuttgart – die Turnhallen wären wieder voll.Mit Problemen ganz anderer Art hatten sich die Männer in Stuttgart herumzuschlagen: mit Gewalt wollten die Kampfrichter durchpeitschen, daß ein bundesdeutscher Athlet die Siegesprämie von 10.000 DM mit nach Hause nehmen darf. Das schon seit Jahren faire und mit international vorzeigbarem Verhalten ausgestattete Stuttgarter Publikum dankte der nationalistischen Intention nicht und pfiff die Parteiischen aus. Der Sieger Vitali Scherbo meinte: „Es geht nicht, daß die Kampfrichter glauben, bei einem Turnier in Deutschland müsse automatisch ein Deutscher gewinnen.“ Andreas Wecker, der so arg bevorteilte, stürzte jedoch am letzten Gerät und fiel so auf den dritten Rang zurück. „Damit“, so der Berliner, „habe ich die Fehlbewertungen ja wieder einigermaßen ausgeglichen.“ Thomas Schreyer
Frauen, Kür-Vierkampf: 1. Swetlana Boginskaja (Weißrußland) 39,475 Punkte, 2. Tatjana Lisenko (Ukraine) 39,375, 3. Lavinia Milosovici (Rumänien) 39,350, 4. Li Li (China) 39,100, 5. Tatjana Gutsu (Ukraine) 38,700.
Männer, Kür-Sechskampf:1. Vitali Scherbo (Weißrußland) 58,600 Punkte; 2. Grigori Misutin (Ukraine) 58,350; 3. Andreas Wecker (Berlin) 58,250; 4. Igor Korobschinski (Ukraine) 58,000; 5. Ralf Büchner (Hannover) 57,950; 6. Valeri Belenki (Aserbeidschan) 57,400.
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