: Körperträume der Philosophie
Zu Michel Onfrays Studie „Der sinnliche Philosoph“ ■ Von Hans-Werner Zerrahn
„Ehemals hatten die Philosophen Furcht vor den Sinnen: haben wir diese Furcht vielleicht allzusehr verlernt? Wir sind heute allesamt Sensualisten, wir Gegenwärtigen und Zukünftigen in der Philosophie, nicht der Theorie nach, aber der Praxis, der Praktik...“
Es ist Michel Onfray, der diesen Passus aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft“ im Schlußteil seines neuen Buches zitiert, gewiß nicht anzulasten, daß nur zwei Kapitel aus dem französischen Band „L'art de jouir. Pour un matérialisme hédoniste“ nebst Vor- und Nachbemerkung dem deutschen Leser unter dem schlagkräftigen Titel „Der sinnliche Philosoph“ vorgelegt werden.
Wer möchte denn hier noch etwas über „Materialismus“ hören, und sei's denn auch ein „hedonistischer“? Und für die komplette Übersetzung des Buches hat vermutlich wieder einmal einfach das Geld gefehlt.
Hätte nur Onfray seinen Nietzsche, auf den er sich so oft beruft, besser gelesen! Denn die beiden Kapitel dieses Buchs, „Die Verächter der Nase“ und „Die Engelmachermaschine“, sind zwar flott geschrieben. Aber sie sind ermüdend für denjenigen, der mehr als eine Reihe gängiger Vorurteile über die Philosophie von Platon bis Sartre zu finden hofft. Das Verfahren Onfrays ist dabei recht einfach: Er erzählt zwei Varianten der Geschichte vom philosophischen Asketen: „Die Verfechter des asketischen Ideals hassen das Fleisch und mögen die Appendixe nicht. Unter ihnen die Nase und den Phallus...“
Variante Nr. 1 besagt, daß die Philosophen in ihrer Verallgemeinerungssucht die Sinnlichkeit vorzugsweise von den distanzierenden Organen her vorstellen, vor allem vom Auge, vom Sehen her. Der gesehene Körper ist idealisierbar, er verdrängt den wirklichen und realen Leib. Der Geruchssinn dagegen, der die Leiber jenseits der bewußten Ebene miteinander in Beziehung bringt, wird vergessen oder als animalisch disqualifiziert. Insofern unsere frühesten und subjektivsten Erinnerungen aber oft auf Gerüche zurückgreifen, denken die „Asketen“ gegen die eigene Person an. Was wunder, daß dieser heimliche Selbsthaß der Philosophen sich auch des Geruchssinns bedient, um „zu geißeln, was er nicht riechen kann“, und über die Ausdünstungen der Neger und Juden deliriert.
Beachtlich ist das Spektrum an derartigen Dämlichkeiten der Geistesgeschichte, das Onfray hier zusammenzitiert. Aber wenn er etwa Kant als Beispiel heranzieht, muß er zugeben, daß dieser eigentlich nur Belegstellen aus dem naturwissenschaftlichen Schrifttum und aus Reiseberichten zusammengestellt hat. Liegt die Schuld also im persönlichen Asketentum des Philosophen oder nicht vielmehr in dem Zwangscharakter des wissenschaftliche Diskurses jener Zeit? Solche Fragen, denen etwa Michel Foucault gründlich nachging, werden von Onfray mit personalisierenden Thesen wie „Wer die Nase verachtet, will einem Leichnam gleichen“ beiseite gefegt.
Die zweite Variante bei Onfray verläuft ganz ähnlich und rekonstruiert die Phantasmagorie des geheiligten, reinen und geschlechtslosen Leibes. Der Engel als Leitbild der Abstrahierung — seine Unkörperlichkeit ist Ausdruck der Spaltung in Leib und Geist, der „Entfremdung“ von den Sinnen und vom „Realen“. Wehe euch, ihr Kirchenväter!
Die hedonistische Gegengeschichte selbst, die sich auf die griechischen Atomisten sowie auf die französischen Sensualisten des 18.Jahrhunderts, auf de Sade, Feuerbach, Nietzsche und Bergson, stützen soll, erscheint bei Onfray nur blaß und freundlich. Sie gibt der Gegenwart eine Utopie der Identität auf: „Ein Fleisch in Frieden mit sich selbst und mit der Welt, der einzig existierenden Welt. Ein Fleisch, das der Erotik und der Gastronomie, der Ästhetik und der Musik, taktiler wie olfaktorischer Empfindungen fähig ist.“ Für Onfray müßte vermutlich selbst der Messias eine Kellnerlivree tragen, damit er an ihn glauben kann.
Sein Aufklärungsfuror gleicht oft dem eines eifrigen und ganz unsinnlichen Philosophiestudenten, der seine Klassiker hastig gelesen und schlecht verdaut hat und der jetzt allwissend auf den Mensatisch haut. Sein hedonistischer Rigorismus drückt einen neuen und reichlich unbekümmerten Hang zur Wiedergewinnung der einfachen Erfahrungen aus: „Auf den Trümmern und Schlacken, die die Arbeit des Negativen der Philosophien des Argwohns hinterlassen hat, kann man heute einen neuen, radikal heidnischen und atheistischen Körper wollen, meilenweit von dem entfernt, was komische Dionysien, wie einige Nostalgiker Griechenlands sie sich wünschen, vorschlagen würden.“ Aber wie oft nimmt Onfray das „Dionysische“ – und dazu noch ein äußerst gezähmtes, ja stubenreines – als das Realitätsprinzip des Leibes in Anspruch!
Friedrich Nietzsche war da nachdenklicher, wenn er versuchte, noch die im Asketentum selbst verborgenen Leidenschaften herauszulesen, und lieferte pur, was Michel Onfray bloß grob vereinfacht wiederholt: eine Körperkunde des abendländischen Denkens.
Michel Onfray: „Der sinnliche Philosoph. Über die Kunst des Genießens“. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Campus- Verlag, Frankfurt/M. 1992, 173Seiten, 28 DM.
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