„Vier gewinnt“, Zeit verrinnt

Im „Steinhaus“ in Bautzen in der Oberlausitz treffen sich die Kids, die keiner mehr haben will/ Glücksspiel und Hard Rock, Zoff mit den Rechten und keine Zukunftsperspektiven  ■ Aus Bautzen Detlef Krell

Der Bautzener Reichenturm hat seit Jahrhunderten Schlagseite, und es bekommt ihm gut. Hier begegnen sich alle, die es eilig haben. Gedrängel an den Marktständen, Kinder reißen ihren Eltern aus, und die Touristen ziehen lange Gesichter. Der Schiefe Turm vertröstet im blauen Gewand auf bessere Zeiten, wie die reichen Renaissancefassaden und barocken Plätze der tausendjährigen Stadt. Bautzen ist die Hauptstadt der Oberlausitz, und die Oberlausitz ist der Nabel Europas. Sagen Einheimische und ihre Fans. Manchmal.

Die schrägen Stadtkinder treffen sich in der Geschäftsstraße unterhalb des Schiefen Turms. Das „Steinhaus“ war mal Jugendklub. Auf dem staubigen Vorhof gibt es die besten Döner vom Oberlauf der Spree. Wer fit ist, biegt gleich rechts ab und leistet sich ein paar Stunden im schicken, neuen Fitneßcenter. Was aber in jenem schulähnlichen Haus, da hinten unter den Bäumen, geschieht, wissen viele Bautzener nur vom Hörensagen. Das reicht ihnen schon. „Diese Jugend wollen wir nicht“, lautet der Konsens in der Nachbarschaft.

Parterre die Bar; auf halber Treppe das Frauenklo, das auch die Jungs benutzen, und oben „unser Zimmer“. Sieht aus wie bei Hausbesetzers unterm Sofa. Im Steinhaus spielten die „Dekadenten Bürger“ und andere Bands der Region, hier liefen Filme, „Schade, daß Asphalt nicht brennt“ und Faßbinders „Katzelmacher“. Das graue Haus steht jeden Werktag offen.

Die vierzehnjährige Dominique hat nur zehn Minuten Fußweg von zu Hause bis in diesen Schlupfwinkel. Als vor zwei Wochen eine Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft meldete, das Mädchen sei vor ihrem Wohnhaus von zwei halbwüchsigen Skins brutal überfallen und mißhandelt worden, gaben sich die Reporter bei ihr die Klinke in die Hand. Dominique findet seitdem Journalisten „zum Kotzen“. Das handtellergroß auf ihre rechte Wange geritzte Hakenkreuz war zum Glück nicht lange zu sehen. Die Wunde verheilte schnell. Von Tätern keine Spur. Noch ermittelt die Staatsanwaltschaft.

Es ist Nachmittag, gleich öffnet die Bar. Zehn Kids, alle um die 14 Jahre alt, hängen in ihrer Bude und hören Musik. In der Ecke steht halbvoll eine billige Weinflasche. Dominique trägt schwarze Klamotten und ihr Palästinensertuch. Sie ist geschminkt und wirkt müde. Von dem Überfall mag sie nichts erzählen, und auch für die anderen scheint die Sache schon wieder erledigt. Ins Steinhaus kamen das Mädchen und seine Freundin von Anfang an, „weil wir hier machen konnten, was wir wollten“. Pit ruft dazwischen: „Das war früher mal so“, und erklärt, wie diese Freiheit aussieht: „Rumsitzen und Musikhören, Würfel spielen.“ Und die Erwachsenen, die Mitarbeiter des Hauses austricksen, die ihnen den Alkohol und das Rauchen versagen wollen. Pit ist dreizehn. Er geht seit fünf Wochen nicht mehr in die Schule. „Bin suspendiert worden“, erklärt er trocken. Der zierliche Junge mit der Punkfrisur, die wie eine Samtborte auf dem kahlen Kopf liegt und das kindliche Gesicht doch nicht älter machen kann, ist gleich bereit, von sich zu erzählen.

Doch seine Auskünfte bleiben einsilbig. „Weil die Lehrer Angst vor mir haben“, dürfe er nicht mehr in die Schule kommen. „Aber nicht alle“ ängstigen sich vor ihm. Seine Klassenleiterin habe ihn unterstützt. „Weil ich die Lehrer immer so angeschrien habe“, ist kein Unterricht mehr möglich gewesen in der Klasse 6 einer Bautzener Mittelschule. Weiß er schon, wie es weitergeht? „Nö.“ Vielleicht, rückt Pit nach einer Weile raus, könne er bald in eine andere Schule gehen. „Meine Mutter will sich kümmern.“ Und die Klassenleiterin.

Auch im Steinhaus hat Pit immer wieder Ärger. „Ich wär' gestern beinahe rausgeflogen. Weil ich einen kleinen Knüppel mit hatte“, schimpft er. „Irgendwas braucht man zur Verteidigung.“ Aber das wollte „die Chefin“ eben nicht einsehen. „Wie damals mit meinem Messer und der kleinen Flasche Schnaps. Die hätte ich ja draußen getrunken.“

Zoff mit den Rechten ist eines der Dauerthemen im Steinhaus, das in ganz Bautzen als „linkes Haus“ bekannt ist. „Den Rechten“ schreibt Pit die zerborstenen Fensterscheiben zu und das miese Klima in der Stadt, wo „einen auf der Straße die Glatzen anmachen und man übelst aufs Maul kriegen kann“. Vor dem Haus, am Döner- Stand, ist Pit sogar schon mal gefragt worden, ob er beim Republikanerklub mitmachen wolle. „Da habe ich dem Typen gesagt, paß auf, das ist hier ein linkes Haus.“ Links sein, „das ist einfach eine andere Lebensweise“, erläutert sein Kumpel Frank, „ich bin zum Beispiel gegen jede Gewalt.“ Dominique ist „links, weil ich nicht kapiere, wie jemand gegen Ausländer sein kann. Es wird schrecklich, wenn das so weitergeht mit diesem Haß.“ Wie ihre Klassenkameraden von der anderen Front kennen die Steinhaus-Kinder leibhaftige AusländerInnen gerade mal vom türkischen Verkaufsstand an der Ecke. Hin und wieder gibt's in der Bar ein exotisches Essen aus dem Eine-Welt-Laden von nebenan, wenige nur haben schon mal eine Auslandsreise erlebt.

„Jeder guckt dir blöd hinterher“, erklärt Dominique ihren Frust auf die kleine Stadt. „Ich war im Sommer ein paar Wochen in Westdeutschland, da laufen übelste Punker rum, und es juckt keinen. Da treffen sich eben eine stinknormale Frau und ein Punk und setzen sich ins Café, das wirst du hier nie sehen. Hier haben sie Angst, dich nach der Uhrzeit zu fragen.“ Stories gehen die Runde, von Überfall und Verteidigung, von den „Assibullen“, die immer die Falschen mitnehmen. „Die Linken wurden verhaftet, die Rechten haben noch dagestanden mit dem Knüppel, das hat keinen gestört.“ Scharfe Waffen, das käme nie in Frage, sind sich die Kids einig. „Eh du dich versiehst, bist du in der Scheiße drin“, meint Frank, und Pit nickt. Ohne einen kleinen Prügel sei er jedenfalls nie in die Schule gegangen.

Katrin, die sich im Steinhaus als ABM-Sozialarbeiterin auf ihr Studium vorbereitet, relativiert die Erzählung der Kids als eine kleine „Bedrohungslüge“. Zwar habe es Angriffe auf Linke und auf das Haus gegeben, besonders schlimm nach dem Pogrom von Rostock, und um die Antifa-Demo von Hoyerswerda herum. Da hatten sie guten Grund, Wachen einzuteilen. Doch von alltäglichen Gewalttaten könne keine Rede sein. So viele „Rechte“ gäbe es gar nicht in Bautzen. In dem zum gegnerischen Territorium erklärten Jugendklub in einem Neubaugebiet würden „ganz normale Jugendliche“ gehen, dort hängen ja auch Plakate: „Mach meinen Kumpel nicht an!“ Und „ganz so unschuldig“ seien die „linken“ Kids nun auch wieder nicht, urteilt sie. Aber die eintönigen Tage vergehen eben schneller im latenten Widerstand. Was sie sonst mit ihrem Haus gern anstellen würden? „Die Leitung übernehmen“, fällt Pit dazu ein und „jede Woche eine Band und Disco und die Wände anmalen“. Die Sozialarbeiterin hält dagegen: „Ihr schafft es nicht einmal, euer Zimmer aufzuräumen. Es ist auch einfach kein Geld da, um Bands einzukaufen. Ihr wißt, wir können nur Gruppen holen, die fürs Eintrittsgeld spielen.“

Nicht nur Pit, auch andere Steinhaus-Kids gehen nicht mehr in die Schule, oder sie schwänzen wochenlang. Eines der Mädchen erwartet, daß es demnächst „von der Schule fliegt“. Als „Linke“ sei sie dort verloren; auch manche Lehrer würden sie deshalb schneiden. Allen voran der Gesellschaftskundelehrer. „Das ist ein Rechter. Redet von ,Deutschland den Deutschen‘ und behandelt die Schüler nur nach ihrem Aussehen. Als Linke bin ich bei dem weg vom Fenster.“ Ihre Freundin weiß dafür eine ganz unpolitische Erklärung: „Die Rechten fallen nicht auf, die machen, was von ihnen verlangt wird, sie sind diszipliniert. Normal eben. Damit sind doch Lehrer immer zufrieden. Aber wenn du auffällst, wirst du an den Rand gedrängt.“ Viele von den disziplinierten, normalen SchülerInnen würden schon mit rechten Organisationen liebäugeln. „Bei uns sagen sie alle, sie wollen, sobald es geht, in die DVU oder die DA“, berichtet Frank, „diese Organisationen sollten verboten werden, das bringt doch mehr als bei der kleinen NF.“

Nazis hin, Linke her; die wichtigere Frage für die Halbwüchsigen ist schlicht, wie sie in den nächsten Tag hineinleben werden. Die Spannung zwischen denen, die in dem Haus „den Hut auf“ haben, und denen, die darin Zuflucht suchen, ist nicht zu übersehen. Beide Seiten reizen derzeit die Toleranzgrenze der anderen aus. Da sind die Zigaretten, die Bierflaschen und das Jugendschutzgesetz, auch soll geklaut worden sein. Jan Wenzel ist als Zivildienstleistender einer der fünf SozialarbeiterInnen im Steinhaus. Er beschreibt die Betreuung der Zwölf- bis Vierzehnjährigen als wichtigste Arbeit an diesem Ort, bei der man eine „neue Qualität sozialer Entwurzelung“ erlebe. Vor dem Fall der Mauer seien diese Kids noch wohlbehütete Kinder gewesen, deren Lebenslauf mit „Schule, Lehre, Beruf, Armee, Familie“ abgesteckt war. Inzwischen haben sie miterlebt, wie ihre Eltern den Job verloren und ganze Familien zerbrachen. „Sie erleben ihre Eltern als Versager und ahnen, daß es ihnen selbst nicht viel anders gehen wird.“

Zudem sei die Schule „hoffnungslos überfordert“. Die LehrerInnen, beschreibt der Zivi seinen Eindruck aus Gesprächen in den Schulen der Kids, seien sich nach der großen Entlassungswelle noch immer nicht ihres Arbeitsplatzes sicher, viele gehen deshalb brisanten Themen lieber aus dem Weg. „Wir haben hier Kinder, die werden von bestimmten Lehrern zu Beginn der Unterrichtsstunde prinzipiell erst mal rausgeschickt. Dann sagen die sich natürlich, warum denn den Rest des Unterrichts noch mitmachen. Und es dauert nicht lange, dann meiden sie die Schule ganz.“ Ihre ungelösten Konflikte bringen die Mädchen und Jungen nun Tag für Tag mit ins Steinhaus; so wurde das „Jugend- und Kulturhaus“ bald so etwas wie ein Obdachlosenheim. „Akzeptierende Sozialarbeit mit einem lenkendem Aspekt“, hinter dieser stelzigen Formulierung verbergen sich mehr Fragen als etwa ein Konzept für den Umgang mit diesen entwurzelten Kids. Das Haus gehört der Stadt. „Wir sind nicht das Schmuckkästchen von Bautzen, hier passiert jeden Tag knallharte Realität“, deutet Jan Wenzel die Reibung mit dem Rathaus an.

Nach der Silvesterparty soll das Steinhaus eine Zeitlang geschlossen werden, um dann von den Kids selbst renoviert und in einen ihnen gemäßen Zustand gebracht zu werden. Den Kids soll mehr geboten werden als eine „syphige Höhle“, sagt die Sozialarbeiterin, nämlich ein eigenes Haus, in dem sie selbst mit gemalert und gewerkelt, das sie sich selbst eingerichtet haben. „Hier ist doch der einzige Ort, an dem sie die Sau rauslassen können“, sagt Katrin. Und wenigstens das soll er ja bleiben. Aber über „die Sau“ hin und wieder zu verhandeln, hoffen die jungen Sozialarbeiter, dafür ist es noch nicht ganz zu spät. Ein Verein ist im Gespräch, der dann auch Fördergelder abschöpfen könnte.

Die Bar hat geöffnet. Vorerst leert sich die bunte kleine Höhle im oberen Geschoß mit dem Namen „Unser Zimmer“, und die Kids gehen runter zum Tresen. Es gibt Saft und Quinoa, Öko-Wein und EKU-Bier. Pit und einige andere Jungs lassen sich ein Glücksspiel geben. „Vier gewinnt“, der erste beginnt zu würfeln.

(Die Namen wurden von der Red. geändert)