: Ein neuer Hungerwinter in Kurdistan
■ Ein erheblicher Teil der landwirtschaftlichen Fläche in Kurdistan ist vermint. Embargos verhindern eine effektive Winterilfe; die UN-Organisationen haben kein Geld
Tretminen bringen Tod und Hunger
„Wenn nicht bald etwas passiert, ist es für die Winterhilfe zu spät.“ Unisono fürchten internationale und kurdische Hilfsorganisationen die drohende Versorgungskatastrophe für die rund 4,5 Millionen Menschen in Irakisch- Kurdistan, die dramatischer werden könnte als im letzten Winter. Die Versorgung mit Lebensmitteln und Brennstoffen ist bereits vor drei Monaten zusammengebrochen. Auch gelangt kein Baumaterial mehr in die von Saddam Husseins Truppen zerstörten Regionen. Soweit die Menschen wieder in die Ruinen ihrer Häuser zurückgekehrt sind, versuchen sie, selber gegen den Versorgungsnotstand anzugehen. Die Landwirtschaft soll wieder auf die Beine gebracht werden. Aber selbst wo die Schwierigkeiten bei der Beschaffung von Saatgut, Geräten und Treibstoff überwunden wurden, blieb ein schwer lösbares Problem. Große Teile des Nordirak sind vermint: Die irakische Armee hatte wohl den Auftrag, den kurdischen Nordirak ein für allemal unbewohnbar zu machen, als sie dort Millionen von Tretminen teils während der Niederschlagung des kurdischen Aufstandes nach dem Golfkrieg, teils während des irakisch-iranischen Krieges zwischen 1980 und 1988 auslegte. Die landwirtschaftlichen Nutzflächen sind dadurch erheblich dezimiert. Wer sein Land bebauen will, muß damit rechnen, am Abend verstümmelt oder tot zu sein. Nach Expertenschätzungen konnten darum in diesem Jahr nur knapp die Hälfte der früheren Kapazitäten in der Landwirtschaft genutzt werden.
Die Preise für Grundnahrungsmittel sind explodiert. Ohnehin knappe Güter wie Brot, Öl, Reis und Brennstoffe sind für viele unbezahlbar geworden. Die Brotpreise stiegen im Lauf eines Jahres im Schnitt um das vierzig- bis fünfzigfache, Benzin und Heizmaterial sind um das hundert- bis hundertfünfzigfache teurer geworden. Viele Menschen sind arbeitslos. Viele in ihre zerstörten Dörfer und Städte zurückgekehrte Familien ernähren sich nurmehr von Brot und Tee; die letzten Mehlreserven gehen zur Neige.
Auch wenn das Eintreffen des ersten UN-Winterhilfe-Konvois in der letzten Novemberwoche von den Beteiligten als „gelungener Test für die Zusammenarbeit mit türkischen und irakischen Stellen“ bezeichnet wurde, ist das noch kein Anzeichen für eine Entspannung. Die Lage während der kurdisch- kurdischen Kämpfe im Spätsommer und im Herbst hat gezeigt, wie verwundbar der kurdisch kontrollierte Nordirak ist. Die Hilfslieferungen über die türkisch-irakische Nordgrenze kamen ab Ende Oktober wegen des Boykotts der kurdisch-türkischen PKK-Guerilla gegen Irakisch-Kurdistan ganz zum Erliegen. Aus Angst vor Vergeltung transportierten türkische und türkisch-kurdische Lastwagenfahrer wochenlang so gut wie keine Hilfsgüter mehr. Damit stand der Nordirak zeitweise nicht nur unter einem doppelten, sondern unter einem dreifachen Embargo: dem UN-Boykott gegen den Irak, dem Embargo der irakischen Zentralregierung in Bagdad gegen den rebellischen Nordirak und dem der PKK. Nach dem Ende der Kämpfe, an denen die türkische Luftwaffe massiv beteiligt war, stellte Ankara zwar in Aussicht, kurdische Fahrer aus dem Nordirak könnten für Hilfstransporte in Zukunft die Grenze überqueren. Doch werden die Transportkapazitäten im kriegszerstörten Nordirak kaum ausreichen.
Aufgrund der vor über einem Jahr von Saddam Hussein verhängten totalen Wirtschaftsblockade erreichen in dem einst erdölexportierenden Land auch Treibstoffe den Nordirak nurmehr als Schmuggelware. Entsprechend knapp und teuer sind Benzin und Diesel. Der chronische Mangel an jeder Art von Ersatzteilen für Autos und Maschinen ist hingegen vor allem auf das UN-Embargo gegen den Irak zurückzuführen. Selbst wenn die Hilfstransporte aus der Türkei wieder rollen, wird es aufgrund der Witterungsbedingungen kaum mehr möglich sein, Zehntausende von Menschen in den Bergregionen zu versorgen. Der erste Herbstregen hat auch die wenigen, im Laufe des Sommers notdürftig ausgebesserten Straßen und Wege teilweise wieder weggeschwemmt. Besonders der südöstliche Teil Irakisch-Kurdistans mit der Großstadt Sülemania ist vollkommen unterversorgt, denn das Gebiet ist durch zahlreiche unwegsame Gebirgsketten von der türkischen Versorgungslinie getrennt. Südlich des 36. Breitengrades liegt das Gebiet außerhalb der von den Golfkriegsalliierten proklamierten Sicherheitszone. Nach Wintereinbruch sind Transporte hierher so gut wie ausgeschlossen.
Zu allem Überfluß sind auch die Gelder der wenigen noch im Land arbeitenden Hilfsorganisationen knapp. Zwar unterzeichnete die irakische Zentralregierung in Bagdad nach langem Zögern Ende Oktober ein „Memorandum of Understanding“ (MOU) zur Regelung von UNO-Hilfsleistungen für den Irak. Doch auf den Konten der UN-Organisation Unicef sind von den veranschlagten 44 Millionen Dollar für die Irak-Winterhilfe bislang gerade mal sechs Millionen Dollar aus den Mitgliedstaaten eingegangen. Gleichzeitig verlangt Bagdad von der Unicef für den im Norden dringend benötigten Heizstoff Kerosin einen völlig überhöhten Preis von 25 Cent pro Liter. Das entspricht zwar in etwa dem offiziellen, wenngleich völlig unrealistischen Wechselkurs Dollar/ Dinar (3:1). Doch gegenüber dem „realistischeren“ Schwarzmarktkurs kommt das etwa einem fünfzigfach überhöhten Preis gleich. Hans Engels, Dohuk
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