: Kino, das ist Rockmusik
Deutscher Film und europäische Holzwege. Gegen den falschen Glamour ■ Von Günter Rohrbach
Günter Rohrbach, Leiter der Bavaria Filmstudios, hat den deutschen Nachkriegsfilm entscheidend geprägt: Ohne seine Unterstützung als Chef der Programmgruppe Fernsehspiele beim WDR hätten Fassbinder und andere Exponenten des Neuen Deutschen Films viele ihrer frühen Filme nicht drehen können. Auf dem SPD-Symposium zur Zukunft des europäischen Films, das am vergangenen Wochenende einen Tag vor der Felix- Verleihung in Babelsberg stattfand, gab er eine kurze Manöverkritik, die wir hier in Auszügen abdrucken.
Jahr für Jahr findet hier in Berlin ein merkwürdiges Ritual statt. Der Minister des Inneren verleiht Prämien und Bundesfilmpreise an Filme, die er nicht kennt, an Macher, von denen er nie gehört hat. Gleichwohl zählt er diesen Akt in schöner Regelmäßigkeit und ungeachtet seiner eigenen, naturgemäß wechselnden Identität zu seinen angenehmen Pflichten. Das Protokoll erlaubt ihm die Verlesung einiger aufmunternder Sätze an die anwesenden Repräsentanten der deutschen Filmindustrie, und der gegen Veränderung resistente Beamtenapparat sichert die Kontinuität der Zuversicht. Es erleichtert den Ablauf der Dinge, daß sich der Minister nicht als Eindringling in die geheimen Exerzitien einer Sekte fühlen muß. Auch der Mehrzahl seiner Gäste, obwohl im Gegensatz zu ihm einschlägig tätig, ist weitgehend unbekannt, was da dekoriert wird. Dem deutschen Film mangelt es nicht nur an Publikum, er ist sich selbst fremd.
Ein deutscher Minister geht nicht ins Kino. Er hat Besseres zu tun, und der Staatsbürger in uns ist geneigt, ihn darin zu unterstützen. Gerade an diesem Ort mögen wir uns an kinobesessene Politiker nur ungern erinnern. Aber daß auch deutsche Filmemacher nicht wissen, was um sie herum geschieht, daß sie es zum großen Teil gar nicht wissen wollen, weil sie eine vorgefaßte Meinung haben, das sollte uns alarmieren. Wer sich umhört unter den Menschen des Metiers, der trifft nicht nur auf Mißmut, Larmoyanz und ausgiebige Schuldzuweisungen, er findet vor allem einen Mangel an Selbstachtung und Solidarität. Die freundliche Ignoranz des Ministers steht in herbem Kontrast zur zynischen der Macher selbst. Für sie ist der deutsche Film nur der jeweils eigene. Man blickt nicht um sich, weil man fürchtet, sich dieser Blicke schämen zu müssen.
Dennoch, der deutsche Film ist besser als es diejenigen, die ihn nicht kennen, glauben. Der Defätismus der Macher entspricht nicht der Realität ihrer Produkte. Jahr für Jahr entstehen in diesem Lande unter schwierigen, teilweise erbärmlichen und erniedrigenden Bedingungen eine ganze Reihe guter, respektabler und manchmal auch herausragender Filme. Der preisende Minister muß sich nicht mißbraucht fühlen. Und auch den Vergleich mit den weitaus besser ausgestatteten Theatern hat der deutsche Film nicht zu scheuen. Es ist nicht die fehlende Qualität, die ihn diskreditiert, es ist der Mangel an Erfolg. Darin, zumindest darin weiß er sich im Einklang mit dem europäischen Film insgesamt. Es gibt kein europäisches Land mehr, in dem der eigene Film den Markt noch dominieren würde. Selbst die letzte Bastion, Frankreich, ist vor einigen Jahren geschleift worden.
Wenige Meter von hier wird der vergebliche Versuch unternommen werden, diese Tatsache zu kaschieren. Mit einem Aufwand, den man angesichts der realen Armut des europäischen Films nur schwer legitimieren kann, sollen Filme und Filmemacher illuminiert werden, die sich für eine solche Veranstaltung so wenig eignen wie ein Philosophenkongreß für eine Modenschau. Dabei hätten wir allen Grund, stolz zu sein auf die ausgewählten Filme. Sie zeigen das europäische Kino auf der Höhe seiner Leistungsfähigkeit. Aber sie haben gerade das nicht, was ihnen ein falscher, aus Übersee importierter Ehrgeiz aufzuzwingen versucht: Glamour.
Unter den Scheinwerfern der „Felix“-Show wird das erst erzeugt, was doch gerade weggeschwindelt werden sollte, nämlich daß der europäische Film jede Vergleichbarkeit mit dem ungebrochenen Glanz Hollywoods verloren hat. Es sind die falschen Kronleuchter, die aus der stillen Schönheit das Aschenputtel machen.
Die nüchternen Zahlen beweisen uns: Je näher Maastricht heranrückt, desto ferner entschwindet uns Europa. Man kann die europäische Entwicklung wie folgt charakterisieren: Der Filmbesuch insgesamt ist rückläufig, der Marktanteil der Amerikaner steigt, der jeweils landeseigene Film stabilisiert sich auf niedrigem Niveau. In Frankreich sind es aber immerhin noch etwa 30 Prozent, in Italien 20 Prozent, in Deutschland zehn Prozent. Die Filme aus den europäischen Nachbarländern hingegen tendieren gegen null.
Für den Film dieses Kontinents ist die Formel Europa keine Lösung, sondern allenfalls eine Utopie. Doch alle Beschwörungsformeln können uns nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Zuschauer zur Zeit nichts weniger sehen wollen als europäische Filme, mit der eingeschränkten Ausnahme jener Werke, die aus dem eigenen Land stammen. Fatalerweise macht es kaum noch einen Unterschied, ob es sich um Coproduktionen mit ihren spezifischen Identitätsmängeln handelt oder um Werke eindeutig definierter Herkunft. Die Mentalitätsschwellen zwischen den europäischen Ländern scheinen höher zu sein denn je.
Im Gegensatz zum Kino können hier nicht einmal mehr die Amerikaner die Regel durchbrechen. Der militante Neo-Nationalismus Mittel- und Osteuropas findet in den Medien Resteuropas eine irritierende Entsprechung.
Ob dies eine Erklärung ist, mag offen bleiben. Mit Sicherheit ist es nicht die alleinige. Ohnehin sind die Verhältnisse bei Kino und Fernsehen trotz partieller Übereinstimmung grundverschieden. Das Kino ist seinem Wesen nach international und multikulturell. Es ist zugleich existentiell angewiesen auf Sprache. Vielleicht hat es auch deshalb seine erfolgreichste Ausdrucksform in jenem Land gefunden, das seine ethnische Vielfalt auf die Basis einer Sprache gestellt hat.
Die Barrieren zwischen den Ländern Europas sind jedoch durch Qualität allein nicht zu überwinden. Von den 1992 nominierten Filmen erreichte „La vie de Boheme“ in Deutschland 131.000 Zuschauer, in Italien 34.000, in Frankreich 60.000. „Les Amants du Pont-Neuf“ hatte in Großbritannien 25.000, in Italien knapp 90.000 und in Deutschland immerhin 360.000 Besucher. „Il Ladro di Bambini“, das ebenso wie „La Vie de Boheme“ in England keinen Verleih fand, erreichte in Frankreich 200.000 Zuschauer, in Deutschland ist der Film gerade erst gestartet, mit enttäuschenden Zahlen. Alle diese Filme sind Meisterwerke, keiner von ihnen ist hermetisch abweisend, im Gegenteil, sie sind bewegend, heiter, spannend und manchmal sogar alles zugleich. Sie sind auf Festivals präsentiert, von den Medien gefeiert worden, und dennoch ist der Erfolg ausgeblieben, in der Mehrzahl der Fälle selbst im eigenen Land. Was machen wir also falsch in Europa?
In der Sprache der Ökonomen ist der amerikanische Film nachfrage-, der europäische angebotsorientiert. Der amerikanische Filmemacher kümmert sich um sein Publikum, der europäische vor allem um sich selbst. Die Amerikaner betreiben Markt-, die Europäer Seelenforschung. Der nostalgiegeprägte Narzißmus der Europäer hat sie daran gehindert, wahrzunehmen, daß Kino seit mindestens zwei Jahrzehnten ein Teil der Jugendkultur geworden ist. Stur und ignorant haben sie daran festgehalten, nahezu ausschließlich Filme für ein Publikum zu drehen, das längst nicht mehr ins Kino geht.
Auch der amerikanische Film hat seit Einführung des Fernsehens mehrere Krisen durchgemacht. Die letzte in den siebziger Jahren, bevor insbesondere Steven Spielberg und George Lucas das
Fortsezung nächste Seite
Fortsetzung
Ruder herumgerissen und Filme für die Generation gemacht haben, die an den Toren der Kinopaläste rüttelte. Von da an ging es bergauf mit dem amerikanischen Film und bergab mit dem europäischen. Amerikanisches Kino, das ist Rockmusik. Französisches, italienisches, deutsches Kino ist im günstigen Fall E-Musik, im weniger günstigen Heimatmelodie.
Freilich ist Rockmusik nicht jedermanns Sache, sie ist schrill, laut, gewalttätig, ordinär, aber sie drückt aus, was Millionen junger Menschen empfinden. Der europäische Film hat ihnen nichts Vergleichbares zu bieten. Je kultivierter er daherkommt, desto mehr ödet er sie an.
Der europäische Film hat seine Kinder verloren und damit nicht nur die Zukunft, sondern auch den Markt. Natürlich haben auch die Amerikaner begriffen, daß man die Schraube nicht überdrehen darf. Wenn nur noch Kinderfilme gedreht werden, gehen nur noch Kinder ins Kino. So sind auch in Hollywood in den letzten Jahren mehr und mehr wieder Filme für Erwachsene entstanden. Filme freilich, die ihre Herkunft aus der Jugendkultur nicht leugnen, die, auch sie, den Sound der Rockpaläste haben, ihre Exaltiertheit und Radikalität. Erwachsene sind älter gewordene Kinder. Die Amerikaner scheinen das zu wissen. Warum sehen wir das nicht?
Wenn ich die Lage richtig beurteile, hat sich der europäische Film für zwei Holzwege entschieden. Die einen igeln sich ein in den Trutzburgen von Tradition und Kultur. Sie suchen das amerikanische Gespenst zu verscheuchen, indem sie es verachten. Geborgen in den Wattierungen der Subvention, ignorieren sie die immer schriller tönenden Signale der Zeit. Der zweite Holzweg beruft sich dagegen ausdrücklich auf den Markt. Wenn die Zuschauer vor allem amerikanische Filme sehen wollen, warum stellen wir dann nicht selbst welche her? Für diesen Weg haben sich in den letzten Jahren wichtige europäische Produzenten entschieden, und auch hochrenommierte Filmautoren haben ihn nicht gescheut.
Die Filme werden, auch wenn sie französischer, italienischer, deutscher Herkunft sind, in Englisch gedreht, die Hauptdarsteller sind Amerikaner, und auch die Identität ihrer Figuren, so sind nun einmal die Forderungen der Ökonomie, ist amerikanisch. Da der wichtigste Kinomarkt der Welt, die Vereinigten Staaten, sich Filmhelden nicht anders als amerikanisch vorzustellen vermag, müssen sogar berühmte Figuren der europäischen Literatur, sollen sie weltmarktfähig sein, in Amerikaner verwandelt werden.
Die Rettung des europäischen Films durch Selbstaufgabe, das kann doch wohl unser Ziel nicht sein. Doch ebenso wenig können wir zulassen, daß wir nach und nach völlig vom Markt verdrängt werden. Die europäischen Filmemacher, die Produzenten, Autoren und Regisseure, müssen endlich begreifen, daß sie nur dann eine Chance haben, zu überleben, wenn sie die jungen Leute zurückgewinnen. Das ist unter anderem auch eine ökonomische Frage. Die Ansprüche der jugendlichen Zuschauer sind genre-orientiert und von den hohen amerikanischen Standards geprägt. Mit den normalen europäischen Budgets kann der Konkurrenzkampf nicht mit Aussicht auf Erfolg geführt werden. Freilich werden auch im günstigsten Fall die Mittel nicht ausreichen, um die erdrückende ökonomische Überlegenheit der Amerikaner zu neutralisieren. Die Europäer müssen darum, jeder für sich, ihren Mentalitätsvorsprung ausspielen. Sie müssen das Vertrauen in ihre eigene Identität wiederfinden. Das Publikum, dafür gibt es viele Beweise, ist bereit, ihnen dabei zu folgen. Allerdings zielt eine solche Tendenz eher auf eine Nationalisierung des Films als auf seine Europäisierung. Das klingt mehr nach Rückschritt denn nach Fortschritt. Doch wenn wir Europa gewinnen wollen, müssen wir zunächst einmal das eigene Haus besetzen.
Ich möchte, obwohl freundlicherweise dazu eingeladen, hier keine Ansprüche an die Politik formulieren. Die Notwendigkeit der Förderung ist weitgehend akzeptiert. Unser Markt ist zu klein und die Übermacht der Amerikaner zu groß, als daß sich der deutsche Film aus sich selbst heraus behaupten könnte. Zwar ist die Förderung alles andere als optimal, doch sie ist besser, als wir es gegenwärtig verdienen. Das soeben vom Bundestag verabschiedete, erneuerte Filmförderungsgesetz spiegelt die divergierenden Interessen der Filmindustrie wider und die Bemühungen von Regierung und Parlament, ihnen Rechnung zu tragen. So ist es mal wieder jener Mittelweg geworden, von dem Alexander Kluge schon vor Jahren meinte, daß er den Tod bringe. Da wir es so wollten, haben wir keinen Grund, uns darüber zu beklagen. Die immer wichtiger werdenden Länderförderungen betreiben keine Kultur-, sondern Standortpolitik. Das hat zum Teil groteske Konsequenzen, doch was wäre die Alternative? In Zeiten großer Finanzprobleme ist man bei handfesten wirtschaftlichen Interessen allemal besser aufgehoben als bei den guten Absichten des Kulturmilieus. Dennoch seien drei Forderungen an die Filmförderung formuliert:
1.Sie sollte dem Nachwuchs eine zureichende Chance geben, sich artikulieren zu können.
2.Sie sollte die Voraussetzung dafür schaffen, daß die großen europäischen Filmautoren ihren Beruf auch dann ausüben können, wenn dies den Marktgesetzen zuwiderläuft. Für die Auswahl dieser Projekte müssen höchste Ansprüche, strengste Maßstäbe gelten. Das Dilemma des Autorenfilms ist nicht die Sache selbst, sondern seine Inflationierung. Nicht jeder, der eine schwierige Kindheit hatte, erwirkt damit schon das Recht, dies mit staatlichen Mitteln öffentlich bekannt zu machen.
3.Der überwiegende Teil der Mittel muß der Rückgewinnung des Marktes dienen. Dies bedeutet Konzentration des ohnehin knappen Geldes auf Projekte, die dem gewandelten Zuschauerverhalten Rechnung tragen. Der deutsche Fernsehzuschauer kann in einem einzigen Jahr unter zehntausend Spielfilmen wählen. Da braucht es starke Argumente, ihn ins Kino zu holen.
Nicht die Förderung selbst ist also das Problem. Wir brauchen sie, und trotz ihrer offensichtlichen Mängel sind wir dankbar, wenn wir sie auch in schwierigen Zeiten bekommen. Dennoch darf das nicht dazu führen, daß die Repräsentanten dieser Förderung zu den wahren Herren des deutschen Films werden. Es muß sich auch vermeiden lassen, daß die Vergabepraxis eine Attitüde annimmt, die irgendwo zwischen Armenspeisung und fürstlicher Deputatsgewährung liegt.
Wir sind an der Entwicklung, sollte dies so zutreffen, nicht unschuldig. Darum sind die Produzenten und Regisseure aufgefordert, die Initiative zu ergreifen. Wenn wir bessere Voraussetzungen für den deutschen Film wollen, müssen wir das junge Publikum auf unserer Seite haben. Millionen begeisterungsfähiger Kinobesucher warten auf uns. Wir sollten sie nicht enttäuschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen