: Von Babelsberg auf Butterberg
Der europäische Film vor Maastricht. Manöverkritik auf SPD-Symposium zur Felix-Verleihung ■ Von Mariam Niroumand
Obwohl alle drei Filme, die in diesem Jahr für den europäischen Filmpreis nominiert wurden, gleichermaßen brillant waren, favorisierten die Kritiker auf den Fluren „Les Amants du Pont-Neuf“ von Leos Carax. Diese funkensprühende Liebesgeschichte im Bicentenaire der Französischen Revolution hatte einfach das größte Potential zum Publikumsrenner. Daß sich die Jury gegen „Les Amants“ und auch gegen „La Vie de Boheme“, eine gleichermaßen europäische Reminiszenz an die hungerleidende Pariser Subkultur der 50er Jahre, entschieden und den Preis an Gianni Amelios „Il Ladro de Bambini“ vergeben hatte, setzte ein Zeichen: für die einfachen Mittel, für die „Regionalität“, für die europäische Tradition (hier der Neorealismus) und gegen die Tröstung des Zuschauers, wo es nichts zu trösten gibt.
Ob eine Wahl wie diese dem europäischen Film aus seiner Krise hilft, ist allerdings umstritten. Tags zuvor hatte die SPD zu einem Symposium „Zukunft des europäischen Films“ nach Babelsberg eingeladen. Wim Wenders als Vorsitzender der Europäischen Filmakademie, Volker Schlöndorff als Leiter der Filmstudios Babelsberg, Hark Bohm, Istvan Szabo und Senta Berger diskutierten mit Produzenten und Politikern wie Oskar Lafontaine, Peter Glotz und dem brandenburgischen Kultusminister Enderlein über die Frage, ob sich künftig in Maastricht „Filmemacher unter die Horden der europäischen Bauern einreihen müsten“, wie Oskar Lafontaine es ausdrückte.
Im Gegensatz zum sonst branchenüblichen Gegreine fehlte dieser Veranstaltung jede Larmoyanz über die amerikanischen Haie, die die kleinen europäischen Fische fressen. In gnadenloser Präzision ließ Senta Berger kurz die Entwicklung der momentanen Lage Revue passieren: Nach dem Krieg wurde die riesige Filmindustrie Deutschlands umgerüstet: Statt selbst Filme zu drehen, importierte man – auch zu Zwecken der Entnazifizierung – amerikanische Produkte und verlegte sich auf eine „Para-Filmwirtschaft“, hauptsächlich die Synchronisation. Die Importe verdrängen auch heute noch einheimische Produkte (in Deutschland eben wegen der Demontage noch stärker als anderswo), aber nun nicht mehr als Filme mit einem bestimmten „Inhalt“, sondern als Ware, als „Termin“. Die Kombination von Block- und Blindbuchungssystem, die Überschwemmung des Marktes mit immer mehr Kopien von immer weniger amerikanischen Filmen durch immer weniger und größere Verleiher, die immer mehr Leinwände okkupieren, führen dazu, „daß deutsche Kinobesitzer sich immer weniger trauen, einen europäischen Film zu zeigen“. Dabei sei die Behauptung, das liege an der geringeren Zugkraft europäischer Filme, ein Trugschluß. Beispiel: Die deutsche Filmkomödie „Kleine Haie“ hat wochenlang dort, wo sie gut plaziert worden war, die Kinos gefüllt. Der etwas später angelaufene Hollywood- Film „Im Schatten des Wolfes“ füllte, auch bei bester Plazierung, die einzelnen Kinos nur mäßig bis schlecht. Daß er trotzdem in der Plazierung auf der Hitliste einen Spitzenplatz einnehmen konnte, liegt daran, daß er – wegen der riesigen Zahl von Kopien, mit denen er auf den Markt geworfen wurde – an einem einzigen Wochenende von Hunderttausenden von Besuchern gesehen wird. Die Zahlen sind betrüblich: 1991 sahen noch 2,1 Prozent der Zuschauer einen französischen Film (1982 waren es immerhin noch 11,7 Prozent), während es 1991 nur noch ganze 0,2 Prozent waren.
Um dem abzuhelfen, plädieren Berger und andere für die Einführung von Quoten wie in Italien, wo an hundert Tagen im Jahr italienische Filme gezeigt werden müssen, oder wie in Frankreich, wo 50 Prozent des Filmangebots aus französischer Produktion stammen müssen, und wo vom Erlös jeder Kinokarte ein Teil direkt in die französische Filmproduktion zurückfließt. Verständlich, daß die Produzentin Margaret Ménégoz nicht glücklich ist über Maastricht: „Diese Gesetze, die wir erkämpft haben, werden durch Europa zerstört. Maastricht bedeutet Todesgefahr!“
Hark Bohm und Istvan Szabo hingegen wollten die Qualität des europäischen Films für seine prekäre Lage verantwortlich machen. „Der europäische Film hat den Kontakt zum Zuschauer verloren“, rief Bohm. „Wer keinen erprobten Fernsehstar anzubieten hat, bleibt unter drei Prozent.“ Aus Angst, populistisch oder gar faschistisch zu sein, wehre man sich gegen das Erleben und bevorzuge das schnöde Denken. „Da herrscht eine aufgeklärte Vorstellung von Erziehungsdiktatur. Man flüchtet sich in ästhetisch radikale, moralisch exklusive Filme, die niemanden vom Fernseher weglocken können“, hemdsärmelte Bohm. Auch Istvan Szabo sülzte, wie noch häufig in den kommenden drei Tagen, den immergleichen Text von der fehlenden Erotik und den „fehlenden Gesichtern“ des europäischen Films. (Was tragen denn die anderen euroäischen Schauspieler zwischen ihren Ohren, Herr Szabo?)
Auch Peter Glotz sah inhaltliche Gründe für die Krise des europäischen Films. Verantwortlich sei ein aus dem Ruder gelaufener Modernisierungsprozeß, einer komplizierten „Vernetzung von Daseinsweisen und Lebensläufen“ und der „Entzauberung und Zerstörung traditioneller Lebenswelten“ einhergehe. „Es gibt nur kleine Spielräume fürs Handeln, eine depersonalisierte Machtausübung ist in Bildsequenzen schwer faßbar.“ Das „Geschichtenerzählen“ sei in einer solchen Welt „schwieriger als in Denver oder Dallas“.
Bohms Kritik allerdings, daß zu häufig auf Gremien und zu selten auf den Publikumsgeschmack hin geschrieben und gefilmt werde, wurde allgemein geteilt. In Berlin/ Brandenburg wird deshalb bereits das „Intendantenmodell“ diskutiert, nach dem einer oder vielleicht drei Verantwortliche für ein Jahr entscheiden, welche Drehbücher und Produktionen gefördert werden sollen.
Konsens war auch, daß die europäischen Koproduktionen, die auf einen internationalen Markt hin geschrieben werden und die deshalb alle ethnischen oder regionalen Besonderheiten einebneten, der sogenannte „Europudding“, künftig dringendst verhindert werden muß. Das bedeutet, daß die nationale Kulturförderung nach Maastricht leichter gemacht werden muß (während ja die nationale Wirtschaftsförderung abgeschafft werden soll – siehe Kasten). Vermieden werden soll auch der Versuch, mit europäischen Geldern amerikanische Filme zu machen, bei denen dann plötzlich Figuren der europäischen Kulturgeschichte nur noch von amerikanischen Schauspielern verkörpert werden können.
Daß gerade Volker Schlöndorff, der ja immerhin den Homo Faber mit einem Homo Farmer wie Sam Shepard besetzte, hier von „kultureller Jungfräulichkeit“ sprach, die sich nun langsam „öffnen“ solle, wundert da wenig.
Koproduktionen wie „Cyrano de Bergerac“, „Drowning by Numbers“ oder „Das schreckliche Mädchen“ zeigen, daß es durchaus Formen gibt, die beides erhalten, regionale und ethnische Prägnanz und Unterhaltung.
„Der europäische Film hat als Wirtschaftsform versagt, aber nicht als Kulturform“, entgegnete Wim Wenders auf alle Behauptungen, der amerikanische Film besitze eine „Vision“ im Gegensatz zum europäischen „Angstkino“. Klar ist, daß in Zukunft immer mehr über Film als Ware, von Filminhalten als „Software“ geredet werden wird. Beispiel Babelsberg: Die Kommunikationsindustrie, die Dienstleistungen im Bereich der audiovisuellen Medien sind einer der wenigen florierenden Wirtschaftszweige in Brandenburg.
Nach Berechnungen einer Londoner Studie können bis zum Jahr 2000 bis zu 100 Kanäle empfangen werden. Das bedeutet, daß es einen enormen Bedarf an „Software“, gerade vom Fernsehen geben wird. Babelsberg als Scharnier zwischen Ost und West, mit seinen elektronischen Fernverbindungen, dem Know-how der DEFA-Mitarbeiter und dem Mythos der UFA- Geschichte drängt sich da förmlich auf; ob die französische Firma CGE, die den Nachlaß übernommen hat, nun 49 oder 52 Prozent der Anteile besitzt, ändert daran wenig. Bisher ist die audiovisuelle Produktion in Europa noch zumeist „kleinteilig“ organisiert; mittlere Handwerksbetriebe bestimmen das Bild. Die Frage wird sein, ob es langfristig gelingt, neben dem „Modell Hollywood“, das heißt einer notwendig zentralisierten, zunehmend kartellisierten Industrie, auch dezentrale, regionale Strukturen und eine Vielfalt der Genres aufrecht zu erhalten. Beispielsweise müssen unabhängige Produzenten offenbar ordnungspolitisch geschützt werden. „Wir wollen den Independent Film überall auf der Welt“, rief Dieter Kosslick, Geschäftsführer des Filmfonds Hamburg.
Am Abend der Felix-Verleihung wurden auf riesigen Leinwänden filmische „Postkarten“ europäischer Filmschaffender bei ihren gegenwärtigen Projekten gezeigt – nie würde eine Oscar-Zeremonie von solch schmutziger Handwerkelei gestört. Bertolucci dreht auf dem Himalaja, Richard Attenborough in Los Angeles, Chantal Akerman in Paris und Otto Sander auf der Siegessäule: work in progress.
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