Wenig Konflikte, wenig Reformen

In der Ukraine ist der nationalistische Rausch einem pragmatischen Umgang mit dem Wirtschaftspartner Rußland gewichen  ■ Aus Kiew Alvaro Ranzoni

Sie beginnt sich zu bewegen, mit der Langsamkeit, aber auch der Erhabenheit eines Kolosses. Bis heute hat man wenig von der Ukraine gesprochen, einem Land mit immerhin 52 Millionen Einwohnern, das aus dem Zerfall der UdSSR hervorgegangen ist und dessen Territorium größer ist als das Polens, Ungarns und der Tschechoslowakei zusammen.

Vielleicht ist das Land deshalb so außerhalb unseres Blickfeldes geblieben, weil ihm das „fehlt“, was heute im Osten Schlagzeilen macht: es gibt weder ethnische Kriege noch andere spektakuläre Konflikte, keine Putschversuche und auch keine „selbstläuferischen“ Persönlichkeiten wie Gorbatschow oder Jelzin. Ein Land, das ruhiger und stabiler erscheint als alle anderen der ehemaligen kommunistischen Welt.

Derart ruhig, daß in diesen eineinhalb Jahren Unabhängigkeit von Moskau faktisch nichts passiert zu sein scheint – nicht einmal Reformen. Vor zwei Wochen, wir waren gerade im Arbeitszimmer des ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk, wurde die allererste nachkommunistische Reform angekündigt: die Lösung des Landes aus dem Währungsbereich des Rubels.

Es war und ist der erste Versuch, dem Würgegriff der furchterregenden Wirtschaftskrise der GUS-Staaten zu entkommen: die Ukraine muß das alleine schaffen, lautet die Botschaft der großen Mutter Rußland.

Das Land muß so zum ersten Mal sein Geld, den Kupon (Wechselkurs: drei Kupons für zwei Rubel, 500 für einen Dollar), selbst mit Gegenwert füllen. Den ganzen Dezember stehen die Kiewer nun schon mit Kupon-Bündeln in der Hand und einer 30prozentigen Inflation vor Augen in der Kriszatik- Straße, dem Einkaufsboulevard, in dem es an nichts mangelt, in braver Reihe in den Geschäften an und decken sich ein.

Immerhin: Es hat noch keine Massenentlassungen gegeben, keine Fabrikschließungen, keinen Zusammenbruch der Institutionen. Die Militärs haben keine Angst, ihre Posten zu verlieren. Anders als in Rußland müssen sie nicht die Rote Armee auflösen, sondern im Gegenteil eine neue Nationalarmee mit mindestens 400.000 Mann schaffen.

Zucker freilich ist Mangelware, und das ausgerechnet in der einst ob ihres landwirtschaftlichen Reichtums als „Kornkammer Europas“ berühmten Republik. Die von Moskau verfügte Arbeitsteilung hat das Land zu einem industriellen Vorposten gemacht, mit ausgedehnter Bergwerks-, Stahl- und Rüstungsindustrie. Vor dem Kollaps des Kreml-Reiches wurde hier ein Viertel des Bruttosozialprodukts der gesamten Sowjetunion erwirtschaftet und der größte Teil der sowjetischen Raketen hergestellt. All das steckt heute in der Krise. Die Produktion ist in allen Bereichen gefallen, Agrarsektor inklusive.

Die nationalistische Trunkenheit der ersten Tage Freiheit ist längst vorbei, die tagelangen Feste der Ukrainer und die Tänze der Kosaken zum Ende der fast 350 Jahre langen russischen Herrschaft schon fast vergessen, ebenso die vielen, vielen Artikel und Reden über die Demütigungen der Ukraine durch Großrußland. Selbst der „Raub des Namens“ – der Fluß Rus liegt überwiegend in der Ukraine – war damals angeprangert worden. Sogar die Enthüllungen und Erinnerungen an Stalins Ausrottungspolitik – zwischen vier und zehn Millionen Ukrainer waren damals zu Tode gekommen – haben heute ebenso nachgelassen wie die enthusiastische Begrüßung noch immer ankommender Exil-Ukrainer.

Bei den Gesprächen auf der Straße legen die Menschen heute die Betonung mehr auf das Verbindende als auf die Differenzen – und das gilt auch für das Verhältnis zu Moskau. Zudem spricht mehr als die Häfte der Ukrainer russisch, viele haben familiäre Bindungen zu den ehemaligen Besatzern. Die Frage über Krieg oder Frieden mit Moskau provoziert in der Hauptstadt Kiew keine Illusionen. Die Welt, die Rußland nur wenig gegeben hat, hat der Ukraine überhaupt nichts zukommen lassen. Die Deutschen haben ihren Investoren eine Regierungsgarantie von 700 Millionen D-Mark gegeben, die USA einen Fonds von 230 Millionen Dollar für die Landwirtschaft bereitgestellt, Italien denkt derzeit an eine Kreditlinie von rund 180 Millionen D-Mark – alles keine Größenordnungen eines Marshallplans. So bleibt Rußland der vorrangige Bezugspunkt für die nationale Wirtschaft. Und das heißt: Frieden und Zusammenarbeit, wo immer möglich. In diesem Zusammenhang wurden mögliche Konfliktpunkte denn auch zügig entschärft, wie etwa der über die künftige Zugehörigkeit der ehemaligen Sowjetflotte im Schwarzen Meer. Bei Verhandlungen in Jalta wurde eine Übereinkunft erreicht, die Schwarzmeerflotte wird bis 1995 zwischen beiden Staaten aufgeteilt.

Mit der gleichen Einstellung sucht Kiew die ethnischen Minen auf der Krim zu entschärfen. Das Schicksal der Halbinsel, die Chruschtschow in den 50er Jahren der Ukraine „geschenkt“ hatte, ist Gegenstand intensiver Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau. Besondere Aufmerksamkeit richtet sich dabei auf die hier lebenden Minderheiten wie die Krim-Tartaren, die diese Gegend als ihr Vaterland betrachten.

Delikatester Punkt der Verhandlungen mit Moskau ist die Aufteilung der gigantischen Auslandsschulden der ehemaligen UdSSR in Höhe von 70 Milliarden Dollar. Kiew ist bereit, 16,7 Milliarden des Schuldenberges auf sich zu nehmen.

Der muß nun freilich abgebaut werden. Danach – aber dann sofort! – soll es mit den Reformen losgehen. Präsident Krawtschuk, der während des Sowjetregimes Chef der ideologischen Kommission der ukrainischen KP war und es dennoch im Dezember 1991 auf 60 Prozent der Wählerstimmen brachte, hat den Ministerpräsidenten Vitold Fokin (ehemals Direktor des kommunistischen Gosplan) gefeuert, der als Hindernis für den neuen Kurs galt.

Seinen Platz nimmt nun Leonid Kutschma ein, ein brillanter Manager, der vordem die Raketenfabrik in Dnepropetrosk geleitet hat. Vierundzwanzig Stunden nach seiner Ernennung war der Neue bereits in Moskau und eröffnete das neue Kapitel freundschaftlich- gleichberechtigter Beziehungen zwischen den beiden Ländern.

So spüren die Ukrainer zwar die Krise, doch die meisten haben gleichzeitig auch das Gefühl, es innen- wie außenpolitisch schaffen zu können. Die Ex-Kommunisten beunruhigen niemanden, solange sie sich als gute Manager erweisen. Die neuformierte ehemalige KP bringt es auf kaum 3 Prozent, gegen die 25 Prozent des moderat- kapitalistisch orientierten RUKH- Blockes. In der Ukraine, so heißt es, ist Platz für alle.

Der Autor ist Mitarbeiter des italienischen Magazins „Panorama“, für das dieser Artikel auch entstanden ist