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„Arbeit hat noch keinem Kind geschadet“

In der Dritten Welt angeprangert – in Europa verschwiegen: Von Portugal bis Dänemark arbeiten Millionen Kinder. Statt in die Schule zu gehen, nähen sie zum Niedriglohn Morgenröcke, bauen Maschinen und verkaufen Zeitungen  ■ Von Uwe Pollmann

Der Pullover, den Antonio Reis Melo bei der Arbeit trug, wurde ihm zum Verhängnis. Der zu lange Ärmel verhedderte sich in der Metallsäge, die dann den Arm des 13jährigen fast ganz vom Körper abtrennte. Einige Operationen konnten den Arm zwar retten, aber Toni wird lebenslang ein Krüppel sein. Der Unfall des jungen Kinderarbeiters geschah nicht irgendwo in der Dritten Welt, sondern in einem Land der Europäischen Gemeinschaft, in Portugal, in der Großstadt Porto. Toni wurde vom Besitzer der Werkstatt zum Schweigen gezwungen. Dafür sollte er Geld bekommen, was er jedoch nie erhielt.

Kein Einzelfall. Arbeitsunfälle von arbeitenden Kindern sind in der lusitanischen Wirtschaft wie die Kinderarbeit selbst Alltagsgeschäft. So verlassen nach Regierungsangaben in dem Zehn-Millionen-Einwohner-Land jedes Jahr 160.000 Kinder zu früh das Schulsystem. Sechs von zehn unter ihnen haben nicht einmal die sechs Grundschulklassen absolviert. Kein Wunder, daß 15 Prozent der Portugiesen Analphabeten sind.

Die Organisation „Anti-Slavery International“ in London, weltweit gegen Kinderarbeit engagiert, geht gar davon aus, daß fast 200.000 portugiesische Kinder arbeiten. Und in der Schulzeit stehen Mädchen und Jungen in Lissabons Altstadt, verkaufen Souvenirs oder Süßigkeiten. Auf Märkten oder bei Fischauktionen helfen sie als Träger. In Cafés, Restaurants und Hotels bedienen sie die Gäste. In der Landwirtschaft schuften sie ebensoviel wie die Erwachsenen. Und im Norden des Landes verdingen sich Tausende Kinder in Steinbrüchen, in der Keramik-, Textil- und Schuhindustrie.

„Er sagte uns, daß er von morgens acht bis abends halb acht arbeitet und drei Kilometer zur Arbeit hin und zurückgeht“, so der Bericht von Porto aus Vizela, der in einer der vielen Textilfabriken schuftet. Von hier aus gehen billige Kleidungsstücke in alle Teile der EG. Der Export von Textilien macht mehr als ein Drittel des gesamten portugiesischen Exports aus. Damit das so bleibt, müssen die niedrigen Preise gehalten werden.

Die Folge: „In Vizela fehlen 40 Prozent der Schulkinder in der ersten und zweiten Klasse der Grundschule. Im vierten Jahr fehlen 80 Prozent.“ Denn viele nähen und schneiden zu in kleinen Fabriken und oft in Kellern, wie Asi südlich von Porto feststellte: „Sonia und Sandra sind beide elf Jahre alt und stellen Morgenröcke in einer kleinen Kleidungsfabrik in der Stadt Saoi Joao de Ver im Distrikt Aveiro her. Die Fabrik ist im Kellergeschoß eines Hauses. Und von fünf Arbeitern ist der älteste 15. Sonia verließ die Schule nach zwei Jahren. Sandra nach fünf Schuljahren. Jedes der Mädchen verdient 32 Pfund monatlich für einen Neuneinhalb-Stunden-Tag.“

Lehrer, die in diesen Gebieten dagegen protestieren, spüren mitunter den Unmut von Eltern und Fabrikbesitzern. Kommt die Gewerbeaufsicht, müssen sich die Kinder in Kisten und Kästen verstecken. Die Einheit von verarmten Eltern und reichen Unternehmern ist auch bei Kinderarbeit in Schuh- oder Keramikindustrie oder in Steinbrüchen felsenfest. Denn nur billige Arbeit bringt den Familien wenigstens etwas Lohn und erhält den Fabrikanten die Geschäfte mit dem Ausland. Immerhin ist Portugal Europas drittgrößter Schuhexporteur.

Die Ursache dieser Entwicklung sieht der „Nationale Jugendrat“ Portugals vor allem im Beitritt zur EG, der „ein Anwachsen instabiler und illegaler Beschäftigungen und die Verletzung von Arbeitsrechten“ mit sich brachte. „Das betrifft junge Leute weit mehr als alle anderen.“ Denn im Vergleich zu anderen Niedriglohnregionen im Süden der Gemeinschaft und in der Dritten Welt wollte das Land konkurrenzfähig bleiben. Aber mangels Technik und Investitionen ging das bisher nur mit billigen Arbeitskräften. Skrupellose Geschäftemacher nutzen so die Folgen der jahrzehntelangen Diskriminierung und Verdummung des lusitanischen Volkes durch das ehemalige Salazar-Regime aus, das Kinder schon früh zur Arbeit aus der Schule entließ.

So hält sich noch heute bei vielen Portugiesen hartnäckig die Meinung: „Arbeit hat noch keinem Kind geschadet.“ Nur: Einzigartig ist das in Europa leider keinesfalls. Im Nachbarland Spanien sollen laut Informationen katholischer Jugendgruppen über eine Million Kinder arbeiten, in Griechenland schätzt der Staat selbst, daß es 35.000 bis 40.000 sind. Für Italien schwanken die Zahlen zwischen 500.000 und 1,5 Millionen Kindern, die als Schafhirten in der Landwirtschaft oder in der Schattenwirtschaft der Städte wirken. So kleben tausende in Neapels Schuhfabriken Schuhwerk für Nordeuropas Käufer und holen sich durch den Äther des Leims Nervenentzündungen und Lähmungen. Mancherorts werden Kinder sogar auf „Märkten der kurzen Hosen“ von den Eltern an Unternehmer stunden- oder tageweise vermietet.

Das, was gemeinhin den Dritte- Welt-Ländern angekreidet wird, die Ausbeutung von Kindern, gibt es vor unserer eigenen Haustür millionenfach. Und in der gepriesenen EG und ihrem Binnenmarkt zeigen sich kaum Veränderungen. „Wir haben jedenfalls keine Anzeichen, daß es sich bessert“, meint Ann-Marie Sherman, Sprecherin von „Anti-Slavery International“. Alles sei eine Frage der Lohnentwicklung. Aber die Löhne fielen bei wachsender Konkurrenz: „Desto mehr Kinder werden ausgebeutet.“

Einziger Lichtstrahl am Horizont ist die Initiative von einigen EG-Parlamentariern, mit einer Richtlinie zum Jugendarbeitsschutz dem Problem beizukommen. Die Gesetze der zwölf Partner sollen angeglichen werden, die neue Richtlinie keinesfalls hinter die Rechte eines Mitgliedslandes zurückfallen. Aber noch ist man sich nicht einig, fordern manche die Arbeitserlaubnis von Kindern ab 15 Jahre, andere ab 16. Und was „leichte Arbeit“ genau ist, die für Kinder ab 13 Jahre für eine begrenzte Stundenzahl möglich sein soll, erhitzt erst recht die DiskutantInnen. So schätzt Lissy Gröner, für die SPD im EG-Parlament, daß die Verabschiedung noch bis Mitte, Ende 1993 dauern könnte.

Wie ein Donnerschreck müssen auf manche EG-Partner die Forderungen gerade der Sozialisten wirken. Rigoros will die Sozialdemokratin Gröner der Kinderarbeit einen Riegel vorschieben. „Vor Aufnahme einer regelmäßigen Tätigkeit“ von Kindern im Alter von 13 Jahren, die zwei Stunden täglich und zwölf Stunden wöchentlich nicht überschreiten darf, will sie eine ärztliche Untersuchung sehen. Diese „leichte Arbeit“ dürfe aber „nicht den Unterrichtserfolg beeinträchtigen und keinerlei körperliche oder geistige Entwicklungsschäden hervorrufen“. Für nationale Gepflogenheiten und Traditionen will sie keine Ausnahmen zulassen. Und jedes Kind, das regelmäßig arbeitet, müsse sechs Wochen Jahresurlaub bekommen.

Nur sei die Verhinderungsfront enorm, so Lissy Gröner: „In Großbritannien haben die Zeitungsverleger ihr ganzes System auf Kinderarbeit aufgebaut. Die haben bereits Einfluß auf den EG-Ministerrat ausgeübt, um die Richtlinie zu verhindern. Die Vorlagen sind deswegen stark verwässert.“ Was der Rat der zwölf Fachminister aus den EG-Ländern deshalb annehmen wird, steht noch in den Sternen. Aber scheitern würde ein strenges Recht keinesfalls nur an Ländern wie Portugal oder Italien.

In Großbritannien arbeiten laut „Eurostat“, dem Statistikinstitut der EG, 700.000 Kinder. Norman Willis, Chef des britischen Gewerkschaftsdachverbandes TUC, spricht gar von zwei Millionen Kinderarbeitern als Folge der konservativen Thatcher-Politik. Die meisten von ihnen verteilen vor der Schule oder abends Zeitungen und Zeitschriften oder Milchflaschen. Schlimm sei auch, schimpft Willis, „daß Kinder sonntags von kleinen Ständen am Straßenrand aus an vorbeifahrenden Autos Blumen oder Obst verkaufen.“ Bei jedem Wetter für oft nicht einmal fünf Mark die Stunde. Beängstigend aber ist für den TUC-Chef, „daß 35 Prozent der Kinder schon einmal einen Arbeitsunfall hatten“.

Aber nicht nur auf der Insel wächst das Problem. Kinderarbeit gibt es zuhauf auch in den Niederlanden und in Dänemark, das neben Portugal und Großbritannien nicht mal das Übereinkommen 138 der „Internationelen Arbeitsorganisation“ (ILO) über ein Arbeitsmindestalter ratifiziert hat. Wobei ohnehin zu fragen bliebe, ob die ILO damit Druck auf die EG-Länder ausüben könnte. Dirk Belau, Kinderarbeitsexperte der ILO, jedenfalls hält das für aussichtsloser als bei den Entwicklungsländern. Es gebe gar keine Kooperation zwischen ILO und EG, was das Thema angehe.

50 Millionen Mark hat die Bonner Regierung der ILO für die nächsten fünf Jahre zur Verfügung gestellt. Damit soll die Kinderarbeit in der Dritten Welt angeklagt werden. Dabei hätten die deutschen Behörden reichlich Unterstützung nötig, um sich um die Misere hierzulande zu kümmern. Bereits 1980 schockte nämlich das Soziologenpaar Elke und Heinrich von der Haar mit einer Studie die hiesige Öffentlichkeit, daß hier 300.000 Kinder arbeiten. Der Kinderschutzbund geht heute von 400.000 aus.

„Aber nach unserer Untersuchung in Nordrhein-Westfalen“, so meint der Gewerkschafter Heiner Schäffer, „glaube ich, daß es eher 600.000 sind.“ Denn nach einer Umfrage unter Schülern in den Bereichen der Staatlichen Gewerbeaufsichtsämter Recklinghausen, Münster und Köln hatte das „Institut für Soziologie“ der Universität Münster festgestellt, daß 20 Prozent aller Kinder unter 15 Jahren einer Arbeit nachgehen, die gegen das Jugendarbeitsschutzgesetz verstößt. Und Schäffer, der als Vorsitzender des Ausschusses für Jugendarbeitsschutz beim Münsteraner Amt die Studie mit anregte, betont: „Da sind die 25 Prozent, die legal arbeiten, noch nicht mit drin. Denn das Gesetz sieht ja Kinderarbeit vor: das Austragen von Zeitungen bis zu zwei Stunden täglich, die Arbeit auf dem elterlichen Hof drei Stunden am Tag, Arbeiten in Werbung und Fernsehen oder bei Tennisturnieren für Millionäre.“

Selbst die Lehrer der Schulen, die an der Umfrage teilnahmen, waren vollkommen überrascht. „Ich sprach mit meinen Kindern und war sprachlos“, berichtet ein Konrektor aus Lengerich. Mit einemmal konnte er sich erklären, warum Schüler Rückenschmerzen hatten, warum sie im Unterricht schliefen oder abwesend waren. Von der Heimarbeit, über Erdbeerernte bis zur Gebäudereinigung machen Kinder in Deutschland vieles. „Auch Gaststättenarbeit bis ein Uhr nachts“ ist für Heiner Schäffer nichts besonderes. „Durchschnittlich kamen sie auf 50 Stunden pro Woche inklusive Schulzeit, die Hausaufgaben nicht mitberechnet.“

Oft seien sie in Kleinbetrieben angeheuert worden. Aber auch Unternehmen, die mit mehr als 20 Angestellten „betriebsratsfähig waren, aber keinen Betriebsrat hatten“, gehörten laut Schäffer zu den Übeltätern. „Allein in Köln wären durch die von Kindern geleistete Arbeit 3.800 Vollarbeitsplätze zustande gekommen, zehn Prozent der Arbeitslosen.“

Aber Kinderarbeit ist eben billiger. Und obgleich die Kids nur fünf, sechs Mark pro Stunde bekommen, verdienten sie laut Münsteraner Studie im Jahr durchschnittlich 5.300 Mark. Manche holten gar mehr als 10.000 Mark rein, um sich in der Regel eigene Konsumwünsche zu befriedigen: Das T-Shirt mit Nobelnamen, die Markensportschuhe oder eine CD- Anlage. Dennoch gaben viele nichts an auf die Frage, wo ihr Verdienst hingeht. Und hier darf vermutet werden aus Scham, daß es an die verarmten und von Sozialhilfe oder Arbeitslosenstütze abhängigen Eltern geht. Denn Kinderarbeit ist vor allem dort häufig, wo die Arbeitslosigkeit hoch ist, meint Heiner Schäffer. Das allerdings genauer nachzuprüfen sieht sich die Bundesregierung außer Stande. Das sei „nicht erforderlich“ antwortete sie auf eine Anfrage der SPD und äußerte „methodische Bedenken“ an der Studie, die das Land Nordrhein-Westfalen finanzierte. Im übrigen sei das Problem Kinderarbeit Ländersache und in „erster Linie ein Überwachungsproblem“, verlautet es aus dem Bundesarbeitsministerium.

Sicher ist das richtig, sind doch die Gewerbeaufsichtsämter sehr unterschiedlich gegen die Misere engagiert. Inspektionen müßten mancherorts viel häufiger sein, fordern Kinderarbeitsexperten. Andererseits jedoch bemüht sich Bonn nicht, das eigene Jugendarbeitsschutzgesetz zu verschärfen. Denn hierzulande ist es ähnlich wie in Großbritannien: So wurde 1976 auf Druck der Zeitungsverleger- Lobby, weiß man im Blüm-Ministerium, wieder erlaubt, daß 13jährige zwei Stunden am Tag arbeiten dürfen – was es zuvor nicht gab. Das wieder zurückzunehmen, traut sich in Bonn keiner.

So sind wohl die Gewerkschaften mehr denn je gefordert, dem verschwiegenen Problem beizukommen. Einerseits müßten sie ihre Mitglieder auffordern, mehr auf die Ausbeutung von Kindern in den Betrieben zu achten, andererseits müssen sie das Problem öffentlich machen. Von dieser Allmacht der Arbeitnehmer-Organisationen erhofft sich die SPD-Frau Lissy Gröner viel, wenn die EG- Richtlinie zum Jugendarbeitsschutz verabschiedet ist: „Die können das dann einklagen.“

Nur, ganz so sicher ist sich da selbst Heiner Schäffer nicht, der für den DGB im Ausschuß für Jugendarbeitsschutz in Münster sitzt. Auch Norman Willis, britischer TUC-Chef und Vorsitzender des „Europäischen Gewerkschaftsbundes“, hält den Vorwurf für berechtigt, daß die Gewerkschafter sich dem Problem bisher eher verschlossen hätten. Kinderarbeit in der Dritten Welt wie in der EG war kaum Thema. Selbst an der Solidarität mit unterbezahlten Genossen in vielen Teilen der Welt hapert es ja. Und so bleibt nur zu hoffen, daß unermüdliche Kämpfer wie der DGB-Genosse Schäffer bald in ihrer Organisation auf mehr offene Ohren stoßen. Nicht nur für Deutschlands Kinderarbeiter, sondern auch für die jungen Arbeiter in Portugal, die in einem gemeinsamen Europa nun auch zu unserer Verantwortung gehören.

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