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■ Der „Solidarpakt“ der Bundesregierung hat es in sichEine schöne Bescherung

In Bonn regiert der blinde Aktionismus nicht erst seit gestern. Doch das absurde Theater hat durchaus System: Die neueste Kürzungsliste, mit der das nötige Kleingeld für den ausgebliebenen Aufschwung Ost zusammengekratzt werden soll, ist nichts anderes als eine kalkulierte Kampfansage an den Sozialstaat. Streichungen bei Sozialhilfe, Arbeitslosengeld, Bafög, Wohngeld, Kinder- und Erziehungsgeld – als Opfer wurden, wie schon so oft, wieder einmal die Schwächsten der Gesellschaft auserkoren. Der „Solidarpakt“ (sic!) hat es im wahrsten Sinne des Wortes in sich: Statt endlich die Unternehmer, Beamten und Freiberufler in die Pflicht zu nehmen oder Privilegien für Besserverdienende zu kappen, wird nach alter Tradition wieder dort herumgeschnitten, wo am wenigsten Widerstand zu erwarten ist. Kohls Weihnachtsmotto, jeder müsse seinen Beitrag hierzu leisten, gerät noch vor der Bescherung zur Farce.

Die politische Klasse, die sozialdemokratische Opposition nicht ausgenommen, setzt angsichts der ökonomischen Schwierigkeiten und rassistischen Exzesse auf ein gefährliches Bündnis: Statt eines Paktes mit der Gesellschaft schließt sie ein Agreement mit sich selbst und ihrer Klientel. Die verwöhnten Westler, Einheitsgewinnler und Arbeitsplatzbesitzer werden in eine neue Sammlung der Mitte integriert, die es sich zum Ziel gemacht hat, die Besitzstände einer Zwei- Drittel-Gesellschaft gegen eine immer größer werdende Zahl von Minderheiten, Marginalisierten und Verlierern zu verteidigen. Die Gründe hierfür sind schnell aufgezählt: Die Schwachen und Ausgegrenzten dieser Gesellschaft werden auf der parlamentarischen Bühne längst nicht mehr anwaltschaftlich vertreten, geschweige denn repräsentiert. Außerdem ist von ihnen, anders als von der Arbeiterschaft in vorangegangenen Krisenzeiten, kein organisiertes Aufbegehren zu erwarten. Und schließlich kommt es, weil ein breiter gesellschaftlicher Diskurs über die ökonomischen, politischen und sozialen Perspektiven des „Neue Deutschland“ nie ernsthaft geführt wurde, nicht zu einem Solidarpakt der sozialen Phantasie, sondern unter einem Rückgriff auf alte Krisenstrategien zu neuen besitzindividualistischen Schwüren.

Wer aber von einer „Gerechtigkeitslücke“ zwischen Ost und West redet und gleichzeitig die Gesellschaft weiter spaltet, der wird es bald mit anderen Integrationsproblemen zu tun bekommen. Die Verantwortlichen für den angeblichen „Solidarpakt“ vergessen nämlich eines: Soziale und damit auch politische Stabilität haben in der Bundesrepublik maßgeblich zu einer weitgehend konfliktfreien Entwicklung beigetragen. Und wer sich an die Krawalle in den USA vom Frühjahr erinnert, der hat vielleicht eines gelernt: Geduld kennt ihre Grenzen. Erwin Single

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