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Drastische Kürzungen im Sozialbereich

■ Die Bundesregierung will mit der Sparliste offiziell nichts zu tun haben/ Inhalte des Kahlschlags im Sozialwesen werden aber nicht dementiert

Berlin (dpa/AFP/AP/taz) — Seit gestern ist sie in aller Munde, die ominöse Sparliste, die angeblich von der Bundesregierung, explizit aus der Feder des Kanzlers stammen soll. Nach ihr soll im Rahmen des „Föderalen Konsolidierungskonzepts“ zur Sanierung der Staatsfinanzen massiver Sozialabbau betrieben werden. Die Liste, die gestern in Bonn kursierte, soll Hauptbestandteil des geplanten „Solidarpakts“ sein, mit dem der „Aufbau Ost“ finanziert werden soll.

Kernpunkt der angeblichen Regierungsvorschläge ist danach ein Kahlschlag im Sozialsystem. Von Mitte 1993 an ist die Kürzung der Sozialhilfe um drei Prozent und ihr anschließendes Einfrieren für zwei Jahre vorgesehen. Die Sozialhilfe für Asylbewerber soll um 25 Prozent gekürzt werden. Das Arbeitslosengeld soll von 65 auf 62 Prozent, die Arbeitslosenhilfe von derzeit 62 auf 59 Prozent des Einkommens verringert werden. Weiterhin plant die Regierung, die für 1994 vorgesehene Bafög-Erhöhung auszusetzen und bundesweit Studiengebühren einzuführen. Das Wohngeld soll um neun Prozent gesenkt und das Kindergeld vom zweiten Kind an gekürzt werden. Darüber hinaus ist eine höhere Besteuerung der Renten vorgesehen. Außerdem sollen der für 1995 geplante Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz wieder aufgehoben und zugleich die Ausstattungsstandards bei der Kinderbetreuung gesenkt werden. Im Umweltschutz will die Regierung auf gesetzlich geplante Standards bei der Gewässerreinigung und beim Abfall verzichten.

Was vor allem die ÖTV erbost, ist der geplante Eingriff in die Tarifautonomie. Denn ab 1993 sollen die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst auf höchstens drei Prozent begrenzt werden. Bei der Beamtenbesoldung soll ein „Gerechtigkeitsabschlag“ von einem Prozent eingeführt werden. Und außerdem will die Regierung den geplanten Anpassungssprung von 74 auf 80 Prozent der Westgehälter in den neuen Ländern noch einmal überprüfen. Die ÖTV-Chefin forderte gestern den Bundeskanzler auf, sich von dieser „Lohnleitlinie“ für Staatsbedienstete zu distanzieren.

Ob die Kritik an die richtige Adresse gerichtet war, wollte die Bundesregierung gestern nicht zugeben. Finanzminister Theo Waigel bezeichnete das Bekanntwerden der Liste jedenfalls als „Störmanöver“. Seiner Ansicht nach handele es sich um keine Kohl-Liste und um keine Waigel-Liste. Vor JournalistInnen meinte Waigel, „Wenn ich mir das anschaue, scheint mir das Schriftbild von (sic! auf, d. Red.) einer SPD-Schreibmaschine entstanden.“ Regierungssprecher Vogel schloß sich dieser Version an. Die Regierung dementierte allerdings nicht die Inhalte der Sparüberlegungen, sondern betonte, die Liste gebe „nur einen Teil der Überlegungen wider“. Die Liste sei offenbar von der SPD aus den „vertraulichen“ Beratungen zusammengetragen worden.

Der FDP-Vorsitzende Lambsdorff bezeichnete die bekanntgewordenen Vorschläge für die Einschnitte ins soziale Netz hingegen als notwendig. Auf der Liste, deren Grundtenor die Koalition bereits vor Wochen diskutiert habe, seien neben Einsparungen im sozialen Bereich auch Subventionskürzungen bei Landwirtschaft, Werften und Verteidigungsausgaben enthalten, sagte der FDP-Chef.

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