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Alice auf der Reeperbahn

■ Alice-Premiere im Thalia: Ein traumhafter Bilderreigen von Robert Wilson, Tom Waits, Paul Schhmidt und Frida Parmeggiani

-Premiere im Thalia: Ein traumhafter Bilderreigen von

Robert Wilson, Tom Waits, Paul Schmidt und Frida Parmeggiani

Noch saß das Publikum am Sonnabend im Thalia nicht auf den Plätzen, als zwölf Figuren in schwarzen Gehröcken ihr Spiel auf der leeren Bühne aufnahmen. Zwölf Charles Lutwidge Dodgsons lassen sich pantomimisch zwischen Gesten, die an Abzählreime, drohende Zeigefinger und an das Tätscheln von Kinderköpfen erinnern mögen, taumeln. Sie zelebrieren den Prolog zu der mit Spannung erwarteten Premiere von Alice, der zweiten Produktion des ungleichen Duos Robert Wilson, der Regie und Bühne entwarf, und Tom Waits, der die Songs textete und die Musik komponierte. Wie für den 1990 im Thalia entstandenen Black Rider entwarf Frida Parmeggiani auch diesmal die Kostüme. Mit Alice ist den beiden gegensätzlichen Künstlern Wilson und Waits und dem Ensemble des Thalia etwas wie ein internationales Volksstückchen gelungen, das den Stoff aus dem 19. Jahrhundert zu einer Bildergeschichte für das 20. Jahrhundert macht, und die mit dem Waits-Song von der Reeperbahn einen neuen Heimat-Hit birgt. Waits' melancholische Melodien, die den 20er Jahren entsprungen scheinen und mit allerlei Geräuschinstrumenten wie singenden Sägen und klingenden Käfern garniert sind, verbinden sich zu einem höchst traumhaften und verwirren-

1den Bühnenerlebnis, wie es in der Hansestadt nicht oft zu sehen ist.

Um sich von der Bilderwelt zu lösen, die sich seit Erscheinen von Lewis Carrolls Alice im Wunderland (1865) und Alice hinter den Spiegeln (1872) um Alice und ihre Abenteuer gerankt hatte, konzentrierte sich Wilson auf die Beziehung des Charles Lutwidge Dodgson, der unter Pseudonym Lewis Carroll schrieb, zu dem Mädchen Alice Liddell, der Tochter seines Dekans in Oxford. Gleich im ersten Bild sieht sich Alice, die Annette Paulmann mit traumwandlerischer Sicherheit zwischen dem Größenwahn einer kleinen Prinzessin und dem strengen Regeln unterworfenen Mädchen spielt, einer Kamera mit riesigem Objektiv gegenüber. Es ragt aus einem Tuch hervor, das sich fast über die ganze Bühnenbreite erstreckt. Kess und fragend zugleich schaut die Paulmann im himmelblauen Kleidchen in die Linse: „Ich bin angelsächsisch, was bist du? Was sagt die Moral dazu?“

Der Dozent und Geistliche Dodgson, der für verschlossen und unsicher galt, schien sich, wenn er der kleinen Alice Geschichten erzählte, in seiner eigenen Kindheit verlieren zu können. Die Sehnsucht nach dem Verlorenen, nach einer sich jeglichen Regeln verweigernden Welt, wurde bei ihm zur Liebe zu dem kleinen Mädchen, dem er

1etliche Briefe schrieb, und das er häufig fotografierte. Vier Jahre machte er der kleinen Alice den Hof, bis es nicht mehr zu verheimlichen war, und er sie nicht wiedersehen durfte.

Strikt hatte es Wilson abgelehnt, sich zu dieser verbotenen Beziehung zu äußern. Psychologie sei seine Sache nicht, betonte er immer wieder, wenn er auf die derzeit viel diskutierte Problematik des Kindesmißbrauchs angesprochen wurde. Doch der Librettist, der amerikanische Theaterwissenschaftler Paul Schmidt, hat die Reflexion dieser unmöglichen Liebe nicht gescheut.

Wilson baute die vierzehn Bilder in zwei Akten spiegelbildlich auf und folgte damit Dodgsons Lust am Erfinden von logischen Rätseln. Im vierten der vierzehn Bilder kommt eine erwachsene Alice zu Wort, die im tiefroten Samtkleid daliegt. In der Erinnerung an den Verehrer ihrer Kindheit zeigen ihre Worte das Trauma eines Mädchens, das sich nur seiner Katze Kitty anvertrauen mag, wie es auf Wunsch des Fotografen und des Mannes Dodgson versucht, still zu sitzen, bis sie glaubt, tot zu sein. In blutrotes Licht ist die Szene getaucht, die sich im elften Bild des zweiten Aktes wiederspiegelt, wenn sich Charles Dodgson, gespielt von Stefan Kurt, an seine große, hoff-

1nungslose Liebe erinnert und daran, wie die Zeit für ihn stehenblieb, als er Alice, „seinen kleinen Liebling“, wie er sie nannte, sah.

Doch die aus engen viktorianischen Moralvorstellungen entführende Gegenwelt, die Lewis Carroll für Alice entwarf, zaubert Wilson

1in heiteren und komischen Bildern auf die Bühne, die zumeist leer und in faszinierenden Farben gestaltet ist. Die phantastischen Figuren verwandelte Wilson in Gestalten, die das Publikum staunen ließen, wie die Raupe, die sich zur Größe der ganzen Bühne aufblähte. Nur Kopf und Hände von Jörg Holm schauen aus dem aufgeblasenen Leib heraus. Und Holm singt das traurig-komische Lied der Raupe, die davon träumt, auf Tischen zu tanzen.

Oder Humpty Dumpty, der sein Bein wie ein Kasper über die Mauer baumeln läßt, auf der er, das Ei mit Armen und Beinen, hockt. Und was wird aus dem Grausen erregen-

1den Monster Jabberwocky? Bei Wilson sind es viktorianische Vikare, die zu einem düsteren Rhythmus in einer Art Choreographie der Zwangsvorstellungen agieren.

Eine gute Million ließ sich das Thalia diese Produktion zusätzlich zum Jahresetat kosten. Ähnlich viel, wie schon The Black Rider kostete, dessen Erfolg die Geschäftsführung des Theaters nun das zweite, finanziell nicht unriskante Projekt wagen ließ. Am Samstag dauerte der Applaus fast eine halbe Stunde an. Zwar waren einige Buhrufe zu hören, doch die dürften den Erfolg des Bühnenrätsels Alice kaum gefährden. Julia Kossmann

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