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SanssouciNachschlag I

■ Volker Braun: beinahe schon verschmitzt

Wenn ein Schriftsteller Geschichte interpretiert, darf man gespannt sein. Um so mehr, wenn er dabei Vergangenheit und Gegenwart spielerisch miteinander verknüpft.

Eben dies gelang Volker Braun auf seiner Lesung in der kürzlich eröffneten Argument-Buchhandlung in Kreuzberg. Im Vordergrund des anschließenden Gesprächs stand sein neuer Essay zu Dostojewskis Puschkin-Rede, die dieser 1880 vor dem Verein „Freunde russischer Dichtung“ gehalten hat. Mit dieser Rede hatte Dostojewski die beiden in der russischen Geschichte seit jeher verfeindeten Parteiungen – westlich orientierte gegen slawophile Russen – miteinander zu versöhnen vermocht, indem er sie gemeinsam auf die europäische Mission Rußlands verpflichtet hatte.

Volker Braun stellt nun einen historisch gewagten Vergleich an: Er präsentiert Dostojewskis „neue Worte“ als unmittelbare Vorläufer von Gorbatschows „neuem Denken“, wie er es 1987 in seiner Rede vor dem Zentralkomitee als Perestroika formuliert hat. Volker Braun bringt Gorbatschows integrative Politik auf einen Begriff Dostojewskis, auf den Begriff der Demut. Auf Gorbatschow bezogen steht er für dessen nationale Selbstbescheidung und Kooperationsbereitschaft, zum Beispiel in Abrüstungsfragen: „Die russische Demut als Staatsdoktrin“.

Durch seine eigenwillige Interpretationskunst, die Geschichte als Roman, als Geschichte im ursprünglichen Wortsinn zu lesen, verblüfft Volker Braun und regt zu Widerspruch an. So müsse Gorbatschow wohl eher als Pragmatiker denn als „Gottesnarr“ gesehen werden, wandte Wolfgang Fritz Haug ein, der das Gespräch moderierte.

Weniger doppelbödig war die Aussage des noch unveröffentlichten Nachtrags „Der Kannibale“ zur ersten Fassung des bereits uraufgeführten Stücks „Böhmen am Meer“, wo das Schwarzweiß-Sein und -Denken in Szene gesetzt wird. Den nachhaltigsten Eindruck erzielte Volker Braun dann doch mit dem lakonischen Pathos seiner Lyrik aus dem in diesem Jahr erschienenen Band „Die Zickzackbrücke“. Vor allem die jetzige Situation der ehemaligen DDR ist sein durchgängiges Thema: „Es ist gekommen, das nicht Nennenswerte“, konstatiert Volker Braun in Anlehnung an Bert Brecht und meint den „Kapitalismus, den ehrlichen Betrüger“. Dennoch weit entfernt davon, in solch einem „spannenden Augenblick, in diesem entsetzlichen Augenblick“ die Geschichte zu Ende gehen zu sehen, sieht Volker Braun in die offene Zukunft. Und er tut dies ohne zu jammern, beinahe verschmitzt: Die Welt wird sich zusammenraufen über der Frage, wie man leben kann angesichts des Wahnsinns einander widerstreitender Interessen. Dieser Streit muß ausgetragen werden, wozu alle Interessen artikuliert und gehört werden müssen. Nur ein Denken, was sich über die Grenzen des jeweiligen Ressorts hinaus erhebt, durchbricht die systemeigene Logik des Machens und des Machbaren.

Was von Volker Braun gut dialektisch als Kampf und Versöhnung gemeint ist, kann weniger als konkrete politische Prognose verstanden werden, sondern ist eben jener „große Hinweis“, den schon Puschkin und mit ihm Dostojewski als Wende ins Offene hinein dachten. Ruth Johanna Benrath

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