: Rattenfänger von Hameln
Reinhard Mey wird heute fünfzig. Eine späte Begegnung mit einem, der sich wohl nie ändern wird ■ Von Klaudia Brunst
Eigentlich kenne ich ihn schon eine halbe Ewigkeit. Damals war sein Haar noch etwas länger, er trug Bell-Bottom-Jeans mit weitem Schlag und eine Hippie-Felljacke. Wir hörten Bob Dylan, den ich noch nicht verstand, und fanden uns natürlich ungeheuer progressiv, auch wenn von uns niemand mit LSD experimentierte oder für den Weltfrieden auf die Straße ging. Reinhard Mey tat das auch nicht, er sang zur Gitarre, und das machte er sehr schön. Seine Lieder waren kritisch, aber nicht radikal, sie waren witzig, aber nicht so saublöde komisch. Eben von allem etwas und niemals zuviel. Eine Schnittstelle zwischen meinem Kinderzimmer und dem wilden Leben in der Stadt, das ich nur secondhand kannte. Reinhard Mey, der kritische Geist für Anfänger, der Individualist für brave Konformisten – er war mein frühes Jugendidol.
Irgendwann, als er gerade seine erste Frau Christine (die, die immer am Freitag, dem Dreizehnten, ankam) verlassen hatte, ein zweites Mal heiratete, Kinder zeugte– irgendwann zwischen Sohn Frederik und Tochter Viktoria –, habe ich mir zu Weihnachten meine erste Platte von Franz Josef Degenhardt gewünscht. Der sang von den schwarzbraunen Richtern in den roten Roben, das war griffiger, das war politisch auf der Höhe der Zeit. Reinhard Mey hingegen trällerte inzwischen von seinen „Menschenjungen“ – wen interessiert das schon mit siebzehn?
Nun wird er fünfzig, hat drei halbwüchsige Kinder und singt immer noch. Meine Degenhardt- Platten stehen in der hintersten Ecke meines Schrankes, gleich neben den Beatles und Bob Dylan, den ich eines Tages doch noch verstanden habe. Alles Vergangenheit. Nur Reinhard Mey habe ich nie ganz vergessen können.
Jetzt sitzt er mir in einem Kreuzberger Café gegenüber, leibhaftig und immer noch so klein und kauzig wie vor zwanzig Jahren. Ein Rattenfänger von Hameln, der mich mit seiner lieblichen Flöte aus der Stätte meiner politischen Geborgenheit gelockt hat. Nur halten konnte er mich nicht. „Ja“, nickt er freundlich, „das ist vielen so gegangen: Irgendwann sind einige der alten Fans abgesprungen, haben die Stilrichtung gewechselt, neue Anregungen gesucht. Ich verstehe das.“ Bevor er selbst Vater geworden ist, wäre es ihm sicher auch auf die Nerven gegangen, „wenn einer die ganze Zeit von seinen Kindern singt“, gibt er zu, „aber ich konnte halt nicht anders.“
Oft genug konnte er nicht anders, der „Gefühlsmensch“ aus dem Berliner Randbezirk Frohnau, der im alten Gehöft seiner Eltern nun seine eigenen Kinder großzieht, jedes Jahr von Oktober bis Februar einen Packen Lieder schreibt und dann im Frühjahr ins Studio geht, um Neues aus dem „Mikrokosmos Mey“ in Vinyl zu pressen. Seine neuen Fans danken ihm so viel öffentlich-musisches Privatleben mit standhafter Treue: Seine Platten gehen gut, die Tourneen sind ausverkauft.
Damals, in den 70ern, als alles noch so wichtig, weil politisch war, eckte er mit seiner familiären Nabelschau noch an. Die Süddeutsche Zeitung bezichtigte den freundlichen Liedermacher mit den langen Haaren der „Rückzugslyrik“, und selbst Springers Welt beklagte Meys Neutralität. Man beschwerte sich über seine „Verbeugungen nach rechts wie auch links“. Reinhard Mey verstand seine heile Welt nicht mehr und sang: „Ich bedenk', was ein jeder zu sagen hat/ und schweig' fein still/ und setz' mich auf mein Achtel Lorbeerblatt/ und mache, was ich will.“
Aber was immer er machte, es machte nichts besser. Stets traf er mit seinen mal ironischen, mal lyrischen Liedern zielsicher den Nerv jener schweigenden Mehrheit, die es sich in ihren Lehramtsverhältnissen gut eingerichtet hatte. Ob es die „Hühner auf dem Weg nach vorgestern“ waren, ein Lied, mit dem er das moderne Avantgarde- Theater verballhornte, oder sein Spottlied über das Emanzipationsmonster „Annabelle“, mit dem er eigentlich sein ambivalentes Verhältnis zu starken Frauen ausdrücken wollte – seine öffentlich gesungene, privat formulierte Gesellschaftskritik fand Zuspruch vor allem in den gesitteten Kreisen zutiefst verunsicherter Kleinbürger. Dabei wollte er doch nur „wie Orpheus singen“ und dabei gerade „nicht mit den Wölfen heulen“.
Manchmal sei er schon mißverstanden worden, erinnert sich der Möchtegern-Querdenker mit den guten Manieren heute und blickt pflichtschuldig nachdenklich in seine Teetasse. „Was soll man tun gegen Beifall von der falschen Seite?“ Aber eigentlich habe er schon dazugehört, zu den Achtundsechzigern, die die Welt verändern wollten. „Ich bin kein Konservativer“, betont er, und es klingt schon fast wie lautes Singen im Walde, „ich brauche Veränderung. Das muß nicht in Form von Umstürzen sein, aber in Form von Evolution will ich sie schon!“
Für seine Verhältnisse ist der Sohn aus gutem Hause schon weit vom vorgeschriebenen Weg abgewichen. Nach dem mit Mühe absolvierten Abitur am Französischen Gymnasium machte er zunächst auf Drängen der Eltern eine Ausbildung als Industriekaufmann, tingelte dabei aber schon mit einer Skiffle-Band durch die Kneipen Berlins und bastelte während des halbherzig in Angriff genommenen Betriebswirtschaftsstudiums an seiner Gesangskarriere. Als sich Mitte der sechziger Jahre in Frankreich die ersten Erfolge einstellten, war er schon standesgemäß verheiratet und wohnte mit der Französin Christine abwechselnd bei ihren Eltern in Paris und bei seinen in Berlin. Einziges Symbol seines Aufbegehrens gegen die bürgerlichen Verhältnisse, aus denen er sich bis heute nie ganz gelöst hat: der knallrote Baader- Porsche, den Reinhard Mey in dieser Zeit auch auf seinen Plattencovern gerne zur Schau stellte.
Zum Interview erscheint der Mann in den besten Jahren jetzt im Mercedes und gerne in Rockerjacke und Westernstiefeln. Der Drei-Tage-Bart soll ihn verwegen machen, aber kaum blickt man ihm in seine treuen braunen Augen, sitzt da doch nur wieder der nette Kerl, dessen „größtes Problem eine ausgeprägte Harmoniesucht“ ist. „Mein Leben ist eine langsame Entwicklung in kleinen Schritten gewesen“ resümiert er, „einen richtigen Bruch entdecke ich da eigentlich nicht.“ Den aber wollten die Studenten im Mai 1967 in Paris, wo Reinhard Mey „das erste Mal mit eigenen Augen sah, wie die Steine flogen“. Das hat ihm, der er Gewalt in jeder Form verabscheut, entsetzliche Angst gemacht. Und als er dann 1968 wie jedes Jahr wieder zum Liederfestival nach Waldeck kam, waren auch dort plötzlich diese aggressiven Störer, die nicht um der Lieder willen, sondern wegen der Politik gekommen waren. Von so viel Radikalität war der kleine Revoluzzer Mey zutiefst verstört. „Wir Leiseren wurden gleich behandelt wie Reaktionäre.“ Ihn selbst hat es gar nicht so sehr getroffen, aber seinen Freund Hanns Dieter Hüsch wollten sie nicht auftreten lassen, weil der die Frage „Bist du Sozialist?“ nicht zur Zufriedenheit aller beantworten wollte. Das ist dem Berliner Barden so tief ins Gebein gegangen, daß er dachte, „also, mit diesen Leuten komme ich nicht klar“.
So machte Reinhard Mey lieber weiter mit seinem leisen Protest, der den Linken viel zu zögerlich war, sang von der Liebe und den kleinen Ärgernissen des Lebens, während auf den Straßen Berlins die Leberwursttaktik ihre Anwendung fand und Degenhardt ins Mikro bellte: „Zwischentöne sind nur Krampf im Klassenkampf“.
Auch spätere Chancen zur Einmischung hat Reinhard Mey, der doch so gerne aus knochigem Holze geschnitzt wäre, häufiger verpaßt als genutzt. Als er mit „Ich würde gern einmal in Dresden singen“ auf den Markt kam, hatte sich Udo Lindenberg schon lange in den Sonderzug nach Pankow gesetzt, die Friedensbewegung der Achziger kam auch ohne seine Lieder aus, und wären da nicht seine beiden Söhne, Reinhard Mey hätte sich wohl auch nicht bei der Wehrdienstdebatte eingemischt. Nicht immer kann man eben von den kleinen familiären Ereignissen aus dem Hause Mey auf die großen Bezüge der Welt schließen. Wer versteht schon seine Geschichten vom heimischen Bruderzwist als Parabel auf den Konflikt in Bosnien-Herzegowina?
„Ich lerne immer noch dazu. Langsam, aber immerhin stetig“, verrät mir Reinhard Mey am Ende unseres Gespräches, „und jetzt, wo die Zeit langsam knapper wird, wird einem klarer, daß man diesen Kopf zum Nachdenken und Weiterdenken hat.“ Eine Kunstpause, dann drängt es entschieden aus ihm heraus: „Ich bin eigentlich entschlossen, die Zeit, die mir noch bleibt, effektiver zu nutzen!“ Ob wir wohl am Ende noch mit einem radikalen Reinhard Mey rechnen müssen, so aufmüpfig und frech, wie ich ihn immer gern gehabt hätte? „Ja, ich denke schon“, antwortet mein alter Held Mey, aber dann ereilt ihn schon wieder dieses Zaudern: „Wenn die Umstände es je erforderlich machen, dann halte ich mich dazu für fähig.“ Reinhard Mey – wie vor Jahr und Tag!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen