: Das war Hamburg im Jahr 1992: Menschen, Tiere, Sensationen: TEIL II
Gut ein Jahr nach Beginn der Auseinandersetzungen im ehemaligen Jugoslawien bemerken die HamburgerInnen den Krieg auf den Balkan. 130 bosnische Flüchtlinge gelangen mit der Bundesbahn in die Hansestadt. Eine „Welle der Hilfsbereitschaft“ überrollt sie. In Poppenbüttel wird ein Wohnwagendorf aufgebaut, bei Caritas und Arbeiterwohlfahrt stapeln sich die Hilfsangebote. Tausende Flüchtlinge, die nicht zum offiziellen Kontingent gehören, kämpfen derweil mit der deutschen Bürokratie. Ohne Verpflichtungserklärung keine Vorabzustimmung, ohne Vorabzustimmung kein Visum, ohne Visum keine Einreise.
August
Um sechs Uhr fällt die Abrißbirne. Kirchenglocken läuten. Wütende BürgerInnen, friedlicher Protest. Nach zehn Jahren Leerstand werden sechs Häuser am Pinnasberg abgerissen. Der Widerstand der Stadtteilinitiativen hat nichts genutzt, der Senat zieht sein Sanierungskonzept durch, die 100 Jahre alten Häuser müssen weg. Die Modernisierungspläne der Anwohner landen im Papierkorb.
Eine Polizeieinheit macht Schlagzeilen: 16E. Die Sondertruppe aus der Lerchenstraße ist in der Wahl ihrer Mittel nicht zimperlich. Immer wieder gibt es Strafanzeigen wegen schwerer Mißhandlung. Insgesamt 80 Ermittlungsverfahren werden angestrengt und verlaufen im Sand. Amnesty International zieht Erkundigungen über die E-Schicht ein; selbst aus der SPD werden Forderungen laut, dem Treiben der Beamten ein Ende zu setzen.
Ein Wort macht Karriere:
Umwandlung. Nachdem der Bundesgerichtshof den Verkauf von Mietwohnungen erheblich erleichtert hat, stellen Hamburger Hauseigentümer und Spekulanten Tausende von Umwandlungsanträgen, um von Wohnungsnot und horrenden Quadratmeterpreisen zu profitieren. Die Mieter in den betroffenen Häusern beginnen sich zu organisieren. Doch ihre Chancen, dem drohenden Wohnungsverlust zu entgehen, sind minimal. Hamburgs SPD vollzieht derweil ihren asylpolitischen Salto mortale, spricht sich auf ihrem Asylparteitag II/92 für eine Ergänzung des Grundgesetzartikels 16 aus.
Trauer um die Opfer des Mordanschlags von Mölln. Vor der türkisch-islamischen Moschee in Hamm werden die Toten aufgebahrt. Moslemische Trauergesänge hallen durch den Stadtteil. Vor dem Rathaus haben sich zehntausend Menschen zu einer Trauerkundgebung versammelt. Auch die Minister Blüm und Kinkel sind zugegen. Sie müssen sich „Heuchler“-Rufe gefallen lassen. Am Flughafen werden türkische Trauergäste, die die Särge zum Rollfeld begleiten wollen, von der Polizei übel zugerichtet. Die Innenbehörde rechtfertigt den Einsatz: Man habe den Flugbetrieb aufrechterhalten müssen.
Alsterleuchten. 300-, 350-, vielleicht sogar 400000 Menschen versammeln sich, um gegen Fremdenhaß zu demonstrieren. Unter ihnen auch solche, deren politisches Handeln die Eskalation der Gewalt von rechts nicht gerade eingedämmt hat. Trotzdem: ein Lichtblick? uex
Ende Juli rollte der erste Zug mit bosnischen Flüchtlingen in den Hamburger Hauptbahnhof ein. Die Hilfsbereitschaft der HamburgerInnen war groß. Doch auch aus anderen Krisenregionen der Welt fliehen Menschen in die Hansestadt. Knapp einen Monat nach Ankunft des ersten bosnischen Flüchtlingszugs kündigte Sozialsenator Ortwin Runde an, daß Hamburg ein Notprogramm zur Unterbringung von Flüchtlingen in Containerdörfern einrichten müsse.
Nur fünf Tage später gingen die wohlanständigen Bürger in Hamburgs Villenvorort Ohlstedt auf die Barrikaden: Protest gegen Container auf einem Schulgelände. Vorurteile, Angst und Fremdenfeindlichkeit trieben die Eltern der Grundschüler zunächst dazu, ihre Kinder vom Unterricht fernzuhalten. Doch dabei sollte es nicht bleiben: Sie reichten eine Klage beim Verwaltungsgericht ein und blockierten schließlich die Straße — kein Durchkommen für die Lkws mit den Containern. Bilder, die durch Deutschlands Medienlandschaft geisterten. Zwei Wochen später trat der Senat den Rückzug an — keine Flüchtlinge an der Grundschule. Der couragierte Schulleiter des Ohlstedter Gymnasiums sprang in die Bresche: Auf seinem Schulgelände durften die Flüchtlinge für acht Wochen unterkommen. Doch auch hier Elternprotest und eine Klage. Aber die Schüler erteilten ihren Eltern eine Lektion in Menschlichkeit: Sie begrüßten das Notprogramm auf dem Schulgelände und empfingen die Flüchtlinge mit Blumen und selbstgebackenem Kuchen.
Aber das unschöne Beispiel machte Schule: Wo immer Container aufgestellt wurden, war die „Anti-Bürgerinitiative“ nicht weit. Inzwischen gehören Anschläge auf AusländerInnen zur grausamen Tagesordung in Deutschland. Schrecklicher Höhepunkt: Am 23. November starben eine türkische Frau und zwei kleine Mädchen in Mölln durch einen Brandanschlag von zwei Rechtsradikalen. sako
Nach 106 Tagen war sie zu Ende: die Besetzung der Shalom-Kirche in Norderstedt. Brutale Übergriffe von Rechtsradikalen in Greifswald hatten die Odyssee von rund 100 Flüchtlingen im September 1991 ausgelöst. Nach einem nächtlichen Überfall waren die Menschen ins schleswig- holsteinische Neumünster in die Anscharkirche geflohen. Nach sechs Wochen willigten sie in die Umsiedlung nach Ostdeutschland ein. Doch schon in der ersten Nacht waren die Neonazis wieder da. Und am 9. November standen die Flüchtlinge wieder vor der Tür der Anscharkirche: Doch dort fanden sie keinen Einlaß — sie siedelten in die Shalom-Kirche nach Norderstedt um. Der Kirche von Pastor Helmut Frenz, dem ehemaligen deutschen Generalsekretär von amnesty international. Es folgten: Drohungen der Landesregierung, Ultimaten der Kirchenleitung und zum Schluß fast täglich neue Ultimaten. Am 10. Februar traten die verbliebenen 24 Flüchtlinge in den Hungerstreik — sie wollten auf keinen Fall wieder nach Ostdeutschland „umverteilt“ werden. Am Abend des 19. Februar gaben sie schließlich doch auf, ließen sich zurück nach Ostdeutschland transportieren. Der Gemeindesaal der Kirche blieb verwüstet zurück: Farbbeutel am Kirchenkreuz und der Schriftzug „Rassistenpack“ blieben als „Andenken“ zurück. sako
Big Trouble am Lerchenfeld — und kein Ende in Sicht: Adrienne Goehler, Präsidentin der Hamburger Hochschule für bildende Künste, stand 1992 im Mittelpunkt von Kampagnen, Gegenkampagnen und Anti-Gegenkampagnen. Ist da die Öffentlichkeit, die eine Hochschule braucht?? Im Frühjahr fing der Ärger an: 30 Professoren forderten den Rücktritt der studierten Psychologin und Ex-GAL-Abgeordneten. Nach den Semesterferien ging's weiter, nicht nur mit der Lehre, auch mit der Schlammschlacht. Der Wissenschaftssenator wollte den Schaden begrenzen, sein Schlichtungsvorschlag scheiterte. Jetzt will der Senat ein Machtwort hören. 1993 wird das vierte Amtsjahr der auf sechs Jahre gewählten Präsidentin.
Dank Leif Nüske hat Hamburg ein neues musikalisches Epizentrum. Gemeinsam mit seinem DJ-Kollegen Oliver Korthals hat er den Mojo- Club an der Reeperbahn 1 zur sichersten Adresse für innovative Tanz-Musik hochgeschafft. Die Bereicherung des Jahres für Hamburgs müde Club-Szene.
Ausreden, die Menschen gebrauchen, um eigene Schwächen zu kaschieren, waren ihm Anfang des Jahres ein Buch wert (er diktierte). Der Hamburger Sportverein sollte eine AG werden (er scheiterte); ein Zauberer, Herr Bretzlaff, den Verein in die richtigen Schwingungen versetzen (er amüsierte); die Spaltung des HSV in einen Amateur- und einen Fußballproficlub ihm den Ruhm eines großen Innovators bringen (er scheiterte wiederum). Seine beliebteste Ausrede: Niemand verstehe ihn richtig, den Chef von Versicherungsdrückerkolonnen und derzeitigen HSV-Präsidenten Jürgen Hunke.
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