Das war Hamburg im Jahr 1992: Menschen, Tiere, Sensationen: TEIL I

Die Bilder gingen um die Welt: Orthodoxe Juden blockieren die Einfahrt zu einer Baustelle, werden von Hamburger Polizisten weggetragen. Auseinandersetzung um den Jüdischen Friedhof in Ottensen. Ein Einkaufszentrum soll hier entstehen, das Hertie-Quarree. Ein Konsumtempel an einem Ort, an dem Hamburger Juden vor der Nazi-Herrschaft ihre Toten begraben haben. Um den Konflikt nicht noch weiter eskalieren zu lassen, drängt der Hamburger Senat den Quarree-Investor Büll und Liedtke dazu, die Bauarbeiten vorläufig einzustellen. Ein Vermittler wird eingeschaltet. Oberrabbiner Jitzchak Kulitz kommt aus Jerusalem an die Elbe, um zu entscheiden, unter welchen Umständen ein Einkaufszentrum auf dem Gelände errichtet werden kann. Sein Spruch: Es darf zwar gebaut werden, aber die Gräber müssen dabei unangetastet bleiben. Nicht bei allen Juden findet der Schlichterspruch des Rabbiners Kulitz Beifall. Hamburgs Jüdische Gemeinde hatte dafür plädiert, die Toten umzubetten. Senat und Investor beugen sich Kulitz' Votum, um weiteren Protesten vorzubeugen. Gegen den Beschluß der Altonaer Bezirksversammlung stimmt die Stadtregierung den neuen Bauplänen zu; das Gebäude soll auf einer Bodenplatte errichtet werden. Die Zahl der in dem Komplex vorgesehenen Wohnungen wird drastisch reduziert. ALLE FOTOS: HENNING SCHOLZ (10), MARKUS SCHOLZ, MÖNKEDIECK, KLAUS KARSZAT, PR

Hamburg hat zwar immer noch keine Bürgermeisterin, dafür aber seit diesem Jahr eine Bischöfin. Mit 78 Stimmen wurde Maria Jepsen am 5. April 1992 von der Hamburger Synode zum Oberhaupt der evangelischen Kirche gewählt. Ihr Gegenkandidat, der Michel-Pastor Helge Adolphsen, unterlag mit kläglichen 44 Stimmen. Obwohl sie vorher Unterschriften gegen die Wahl der feministischen Theologin gesammelt hatten, zeigten sich die konservativen Kirchenmänner zähneknirschend zur Zusammenarbeit bereit. Nur Veddel-Pastor Edgar Spir weigert sich bis heute, die Chefin anzuerkennen. Ein Problem, das der weltweit ersten Bischöfin keine Sorgen bereiten muß: Der Mann geht in einem halben Jahr in Rente.

Geteilte Reaktionen rief das überraschende Geständnis des Ex-RAF- Mitglieds Peter-Jürgen Boock bei seinen Unterstützern hervor. Im Mai hatte der 40jährige bekennende Aussteiger, der seit 1987 in Hamburgs Santa Fu sein Lebenslänglich absitzt, gestanden, er habe doch an den Ermordungen von Hanns-Martin Schleyer und Jürgen Ponto teilgenommen. Sein Gnadengesuch beim Bundespräsidenten liegt auf Eis, doch nicht alle FreundInnen wandten sich von Boock ab.

Er könnte der Architekt der Hamburger Polit-Zukunft sein:

Wolfgang Hoffmann-Riehm, Leiter des Hans-Bredow-Instituts für Rundfunk und Fernsehen, entwarf als Vorsitzender einer Enquete-Kommission die Grundzüge der Parlamentsreform. Das Ergebnis: ein mittelschwerer Angriff auf den Hamburger Filz und liebgewonnene Gewohnheiten der Bürgerschaft. Seine Ziele: Professionalisierung des Parlaments, mehr Rechte für die Opposition und Einführung von Volksinitiativen und Volksabstimmung. Ob er sie erreicht, wird das kommende Jahr zeigen, in dem die Bürgerschaft über die Parlamentsreform abstimmen muß.

Am 27. Januar setzte sie der Richter nach sechs Monaten Untersuchungshaft wieder auf freien Fuß: Ralf Gauger und Knud Andresen. Doch ihr Verfahren wird das Itzehoer Gericht wohl auch noch 1993 beschäftigen — obwohl die Anklage zusehends in sich zusammenzufallen scheint. Die Beschuldigten hatten sie von Anfang als „dreiste Staatsschutzlüge“ tituliert. Zwei Hamburger Staatsschützer wollten die beiden Aktivisten der Roten Flora im Juli 1991 dabei beobachtet haben, wie sie auf Pinneberger Gleisanlagen Betonplatten gelegt haben. Der Zugfahrer merkte von dem Anschlag wenig, doch der Staatsanwalt schrieb „versuchter Mord“ in die Anklageschrift. Doch schon am ersten Prozeßtag meldete der Vorsitzende Richter Zweifel an diesem Tatvorwurf an. Die Staatsschutzzeugen, die geschminkt und verkleidet vor Gericht aussagten, verwickelten sich in Widersprüche. Auf den Ausgang des Verfahrens darf man gespannt sein. sako

Post blieb liegen, Müll stapelte sich, Züge standen still, Bezirksämter machten dicht: Streik im öffentlichen Dienst! Stündlich neue Dienststellen im Ausstand — Freudenfest für die Presse, aber nicht für die öffentlichen Kassen. Schon vor Ostern war das erste Donnergrollen der Gewerkschaften vernehmbar: 3,5 Prozent mehr Lohn — das Angebot der Arbeitgeber, 9,5 Prozent — das der Arbeitnehmer. Die Vorbereitungen für den ersten Streik im öffentlichen Dienst seit 1974 liefen an. Am 25. April sprangen schließlich die Postler als Streik-Avantgarde ins kalte Wasser, bald stürzten Zehntausende hinterher. Am 1. und 2. Mai: 40000 Streikende demonstrierten in Hamburg. Am 8. Mai dann Waffenstillstand: 5,4 Prozent. Bilanz der zwei Wochen: 15 Millionen liegengebliebene Briefe, 57 fahruntüchtige ICE-Züge und 1800 Tonnen Müll auf Hamburgs Straßen. sako

Es hätte das Paar des Jahres werden können: Traute Müller und Eugen Wagner, ein Stadtentwicklungs-Tandem der besonderen Art. Eugen fürs Grobe, Traute für die feine Planung der Hamburger Zukunft. Es sollte anders kommen. Eifersüchteleien um Zuständigkeit, qualifiziertes Personal und Kompetenz, schadenfrohes Lauern auf die Fehler des anderen. Mächtige Knüppel fliegen durch den Senat. Scheidungsrichter Henning Voscherau weiß sich schließlich nicht anders zu helfen: Trennung. Und zwar sofort.

Die Baupläne darf künftig Traute Müller bearbeiten, Eugen Wagner erhält die Zuständigkeit für Verkehr. Beides schön getrennt, keine Spur von Stadtentwicklung aus einem Guß. Jeder wurstelt weiter vor sich hin. Ein gefundenes Fressen für die Opposition, die in der Bürgerschaft abwechselnd die Entlassung von Wagner und die Auflösung der Stadtentwicklungsbehörde fordert. uex

Nein, es sind nicht die medialen Dauerbrenner, die einem Jahr die Gestalt geben, nicht die immer wiederkehrenden Gesichter mehr oder weniger bedeutender „Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens“, die das Profil von zwölf Monaten schaffen. Die Promis laufen in der Regel dem Alltag hinterher, ihrerseits verfolgt von den ortsansässigen Vertretern von Presse, Funk und Fernsehen. Was das Jahr 1992 prägen sollte, kündigt sich schon in der Silvesternacht an. 15 Skinheads, so meldet die Polizei am Neujahrsmorgen kurz und knapp, griffen vier Aus- und Übersiedler mit Tränengas an. Gerade 50 Minuten war das neue Jahr zu diesem Zeitpunkt alt.

Längst vergessene Gestalten streunen durch Hamburgs Rathaus. Immer auf der Suche nach dem Raum151, dem Sitzungssaal des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Diätenaffäre. Pawelczyk, Dohnanyi, Schulz, Leithäuser, Elstner berufen sich, gut versorgt im Senatoren-Ruhestand, auf das Recht der Älteren: Vergeßlichkeit. Wie war das noch mit dem Senatsgesetz? Ach, wissen Sie, Herr Vorsitzender, damals ....

Und noch ein Rathaus-Besucher, der schon ein wenig Patina angesetzt hat: Michail Gorbatschow. Hamburgs Bevölkerung erweist dem ehemaligen Generalsekretär des ZK der KPdSU und Präsidenten der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken alle Ehre. Was Gorbi von den Senats- Rentnern unterscheidet? Er ist nicht besonders gut versorgt. Seine Visite in Hamburg gilt in erster Linie Geschäftszwecken, ein Buch soll die magere Rente aufstocken.

Nix Jubel, Protest ist angesagt: 10000 HamburgerInnen versammeln sich in der Innenstadt, um ihre Abneigung gegen soziale Kürzungspläne in Bonn, Hamburg und anderswo kundzutun. Im Visier: Die schlechte Ausstattung der Uni und der Schulen sowie die geplanten Streichungen bei AB-Maßnahmen. Aber die Soziale-Netz-Schnippelei des Jahres 1992 dürfte nur das Vorspiel gewesen sein. Der Rathausmarkt wird noch manche Demo erleben.

Satte Mehrheit, trügerische Hoffnung. Auf ihrem Asylparteitag I/92 sprechen sich Hamburgs Sozialdemokraten mit überwältigender Mehrheit gegen eine Änderung des Grundgesetzartikels 16 aus. Gegen die Stimmen ihrer Amtswürdenträger Voscherau, Klose, Elste, Hackmann. Die vier sind trotz der Abstimmungsniederlage guter Dinge: Sie wissen, daß es anders kommen wird.

St. Georg kippt um, BürgerInnen wehren sich. Im Viertel hinter dem Hauptbahnhof wird die soziale Lage für viele unerträglich: „Wir können die Situation nicht mehr aushalten“, klagt eine Mutter. Junkies, Beschaffungskriminalität, Prostitution. Die Menschen haben Angst um die Zukunft ihrer Kinder. Klar wird: Die Vertreibung der Drogensüchtigen vom Hansaplatz, die der Senat 1991 anordnete, hat nichts gebracht. Die Forderungen der Anwohner gehen jetzt weiter, nehmen die Stadtregierung in die Verantwortung: „Macht endlich Drogenpolitik.“