: Balkanisches Kaleidoskop
In Bukarest findet der Handel fast ausschließlich auf der Straße statt/ Geschäftigkeit und Multikulti als Nottugenden/ Auch Bürokraten profitieren von der Konkurrenz um gute Stellplätze ■ Von Keno Verseck
Am Bukarester Gara de Nord schlägt dem Ankommenden eine neue Zeit entgegen. Sie ist schillernd, hektisch und von einer Aufdringlichkeit, die aber trotzdem nicht abstoßend wirkt. Das Gedrängel auf den Perrons geht über in ein Durcheinander vor Ständen und Buden, die noch bis in die dunkelste Ecke des Bahnhofs stehen. Händler bieten schreiend ihre Waren an, Zeitungen und Zigaretten, Pullover und Parfüms, Brot und anderes Backwerk, fettige Wurst und Fusel. Wo früher die Wände vor Leere gähnten, werben heute lachende Gesichter und satte Farben; flimmernde Lichter buhlen um die Aufmerksamkeit des Kunden. Der Bahnhof ist Basar geworden.
Nach einer Nacht im ungeheizten Coupé, die Erinnerungen an leere Läden und den „Boulevard des Sozialismus“ – dieses gigantische Monument der Unmenschlichkeit – aufkommen ließen, verblüfft das geschäftige Treiben am Gara de Nord. Doch kann es nicht anders sein. Nachdem die kommunistische Obrigkeit ihr Monopol auf die Verwaltung der Misere an die Allgemeinheit abgetreten hat, müssen sich die Menschen selbst durchschlagen, irgendwo zwischen Freiheit und Notwendigkeit. Die Hektik auf diesem Bahnhof ist die Hektik des Überganges. Das macht die Menschen müde. Aber nie würden sie versäumen, die Stände anzuschauen, immer auf der Hut, nach Angeboten spähend, die sich mit dem Inhalt ihres Geldbeutels vertragen. Die neue Zeit kennt keine Geschwindigkeitsbeschränkung, und eine Verspätung bedeutet mehr als ein paar verpaßte Stunden.
Hier, am Gara de Nord, laufen jene Züge aus der Ex-Sowjetunion ein, für die man nie eine Fahrkarte bekommt, weil der Schaffner die Plätze nur gegen ein angemessenes Entgelt in harten Dollars freigibt. Hier halten jene alten, klapprigen Busse an, die für zwanzig Mark zwischen Bukarest und dem Istanbuler Laleli-Basar pendeln. Der Gara de Nord ist eine Endstation zweiter Klasse. Hier steigen die aus, die sich über eine Weiterfahrt in Richtung Westen keine Illusionen machen; hier trifft sich der Osten, der europäische ebenso wie der Nahe und der Ferne.
Die Reisenden, ob sie nun Einheimische sind, Russen oder Weißrussen, Moldovaner oder Ukrainer, Polen, Jugoslawen oder Bulgaren, Türken, Jordanier oder Syrer, zeichnen sich durch einen sonderbaren Internationalismus aus: Sie sind verschlafen, ungewaschen, verströmen die denkbarste Vielfalt irdischer Gerüche und haben sich für einen hektischen Kurzaufenthalt mit dem Gepäck von Weltreisenden ausgestattet. Die Schätze, die sie in Koffern und Kartons, Taschen und Tüten verborgen halten, würfe man im Westen auf eine Müllhalde. Ihnen aber sichern sie das Überleben auf Monate. Sie verkaufen diese an Orten, die jeder Bewohner der Stadt kennt und über die kein Reiseführer spricht.
Zum Beispiel jener kleine Markt, der nur ein paar Schritte vom Gara de Nord zwischen heruntergekommenen Neubauten und verfallenen Altbauten liegt. Hier streunen magere Hunde umher, für die jeder nur einen Fußtritt übrig hat, Ratten huschen über stinkende Müllberge, und es gibt alles, was anderswo keine Abnehmer mehr findet: Apfelsinen, hart und winzig wie Golfbälle, kleine grüne Bananen, die grün bleiben oder sofort braun werden, Döner Kebab, doppelt so fetthaltig, wie die EG-Vorschrift es erlaubt, billigen Elektronikramsch und jede Menge bunten Kleinkram.
Die Händler sind nicht freundlich geworden; sich dies zu leisten, fehlt ihnen die Ruhe der sicheren, gehobenen Existenz. Aber sie geben sich beflissen, denn es geht um ihr eigenes Geld – und sie stehen hier zu Dutzenden. Der Nescafé freilich ist lauwarm, Würstchen werden kalt verkauft; immerhin, früher gab es überhaupt nichts. Der Gedanke an die Vergangenheit tröstet über die neue Behutsamkeit des Fortschritts hinweg. In den vierzig Jahren vor dem Umsturz hat er gewachsene Kultur und Infrastruktur gnadenlos niedergewalzt.
Auf Campinghockern oder Holzkisten warten sie auf Kunden: der junge Klavierspieler, der von einer Anstellung in einem Pariser Orchester träumt, der Kurde, der sich nach Westeuropa durchschlagen wollte und der Flucht nun müde ist, die Sekretärin, die ihren Job in einem Staatsbetrieb losgeworden ist, der Türke, der ein kleines Joint-venture gegründet hat, die Psychologiestudentin, die von ihrem Stipendium nicht leben kann, der Rentner, der mit dem Losverkauf sein Dasein fristet, und schließlich der Bauer, der einen Pferdewagen voller Äpfel und Kartoffeln angekarrt hat. Menschen wie sie warten an fast jeder Ecke in Bukarest auf Kundschaft. Eine Armada von privaten Händlern und Händlerinnen bevölkert die Straßen, Plätze und Boulevards der Metropole. Sie blockieren die Trottoirs und U-Bahn-Schächte, ihre Stände werden ohne Unterlaß von einer neugierigen Menschentraube belagert – dafür sind die meisten Schlangen vor den quasi leeren staatlichen Läden verschwunden. Wo die zentrale Distribution gleichbedeutend ist mit der systematischen Organisation des Hungers, erhält ihr anarchisches Treiben ein Mindestmaß an Versorgung aufrecht.
Ohne sie müßte man weiterhin Stunden vor einer Brot- oder Zukkerfabrik anstehen, sich im zwölften Stock der Neubauwohnung ein Schaf halten, das Rauchen aufgeben und auf Vitamine verzichten. Ohne sie bekäme man nirgendwo eine Flasche Bier, eine Tasse Kaffee, einen Imbiß zwischendurch, eine Zeitung und kaum ein gutes Buch. Da, wo – wie bei Grundnahrungsmitteln – unverändert Mangel herrscht, verteilen sie ihn flächendeckend, und das macht ihn erträglicher. So gibt es zumindest alle paar Wochen einen Liter Milch und regelmäßig ein Stück Käse. Manchmal wird die Stadt überflutet. Plötzlich wird überall dieselbe Sorte Cognac, Kaffee oder Schokolade angeboten – und dann weiß man, daß wieder ein ausländischer Lkw auf der Transitroute ausgeraubt wurde. Es ist wahrlich keine Auswahl und Vielfalt, die die Händler feilbieten, aber wenigstens hat man, dank der Warenmasse, das Gefühl des Überflusses.
Freilich wird auch nach Kräften verschoben, jedenfalls das wenige, was der Staat noch subventioniert anbietet. Das Brot kostet beim privaten Händler mindestens doppelt soviel wie in dem staatlichen Geschäft, für das es bestimmt war, und Zucker ist jederzeit für ein Vielfaches des offiziellen Preises erhältlich.
Wenn man fragt, woher die Waren kommen, dann sagt die halb erstaunte, halb abwehrende Miene, was der Mund verschweigt. Als hätte die Frage gelautet: Wie schmuggeln Sie, wo stehlen Sie? Nicht, daß es ansonsten nicht ordnungsgemäß zuginge: Man braucht Papiere, Konzessionen und Zertifikate, die die zahlreichen Ministerien und Ämter ausstellen, jedenfalls theoretisch, die Zahlung von Steuern nicht zu vergessen. Die Bürokratie in diesem Land ist gewaltig, aber mehr aus Geschäftssinn denn aus Selbstzweck. Kein Schaffner, kein Polizist und kein Beamter würde einen ansehnlichen Packen klebriger Hundert- Lei-Scheine ausschlagen, für den er einem im Gegenzug manche Schlange und manchen Amtsweg erspart. Die Bürokratie sieht es als unverzeihlichen Fehler an, wenn man sie ernst nimmt. Oder arm ist.
Zu den Auffälligkeiten, die selbst dann noch erstaunen, wenn ihr Geheimnis gelüftet ist, gehört die Unverhältnismäßigkeit zwischen manchem Handelsobjekt und dem Transportweg: Warum lohnt es sich, wenn das Ehepaar aus dem russischen Samara, ehemals Kuibyschew, zur zweitausend Kilometer entfernten Bukarester Piata Unirii fährt, im Gepäck zwei Dutzend Bleistifte, ein paar Schachteln Kosmos-Zigaretten, zwei Uhren, einen Fotoapparat und Kinderkleidung? Warum springt etwas heraus, wenn die beiden moldovanischen Jungen aus Chisinau zwei Wasserhähne plus Duschschlauch und Brause für 3.600 Lei, knapp 14 Mark, offerieren? Warum bleibt der Bukarester Ökonomie-Studentin etwas übrig, wenn sie in den Semesterferien ihrem vom Dorf angereisten alten Vater hilft, zwei Kisten Weintrauben Marke Eigenanbau unter die Leute zu bringen?
Diese Fragen sind nur halb beantwortet, wenn man das Mißverhältnis zwischen Angebot und Nachfrage kalkuliert, die minimalen Transportkosten und das Lohn- und Preisgefälle in den Nachbarländern studiert. Wer die Landesgrenzen im Norden, Osten und Süden überquert, findet eine exemplarische Lösung für das Rätsel: Hier warten die Menschen nicht nur Stunden, sondern manchmal Tage, um auf die andere Seite zu gelangen. Für die Anreise haben sie eine ganze Woche benötigt. Sie prügeln sich in überfüllten Zügen um einen Platz, oder sie betteln um eine Fahrkarte, die ihnen wegen unvollständiger Papiere nicht verkauft wird. Das ist die unmeßbare und gleichwohl entscheidende Größe in der Kosten-Nutzen-Rechnung: der erbarmungslose Verschleiß menschlicher Energie, den der Mangel und die Not gebiert.
Auf dem Weg nach oben gibt es freilich auch eine Rangordnung der Straßen. Strada Lipscani, Leipziger Straße, heißt die vornehmste Adresse – die an der Ecke zunächst mit einem abbruchreifen Haus und Hütchenspielern beginnt. Hier reiht sich über einige hundert Meter Tisch an Tisch; freigelassen sind nur die Eingänge zu den zahlreichen Kramläden. Nur drängelnd gibt es ein Durchkommen zwischen einigen tausend Menschen, die von morgens bis abends schauen, wühlen, handeln und kaufen. Aber es ist schwer, sich hier als Händler einen Platz zu erobern. Die Roma-Frau, die zusammen mit ihren beiden Töchtern, dem jugendlichen Sohn und einem Säugling an der Piata Universitatii, dem Universitätsplatz, Strumpfhosen, Pullover und Jeans verkauft, kann davon erzählen. Sie hat immer wieder versucht, einen Stellplatz zu bekommen, und jedes Mal hat man ihr gesagt, sie sei nur eine dreckige Zigeunerin. Dabei haben andere Roma in der Lipscani durchaus Stände. Vielleicht können diese höhere Schmiergelder zahlen oder gehören zu denen, die schon seit Jahren im Geschäft sind.
Attraktiv ist die strada Lipscani heute nicht nur, weil hier die erste Wahl der Billigware verkauft wird, die Auswahl größer, die Auslagen schöner und die Imbisse besser sind als anderswo. In der Lipscani zeigt sich auch, daß es nicht nur die Versorgung ist, die die Händler organisieren. Sie renovieren und rekonstruieren, ganz ohne staatliche Hilfe, ein altes Stadtviertel, das während der letzten vierzig Jahre zu Ruinen geworden ist. Sie eröffnen Restaurants, Cafés und Galerien, schaffen inmitten des Einheitsgraus eine Infrastruktur der Vielfalt.
Wahrhaftig, ohne den Handel und die Händler wäre Bukarest ein grauer, toter Moloch – mit seinen gigantischen Fragmenten am „Boulevard des Sozialismus“, Mahnmal und schreckliche Attraktion. Die Händler, die von überall herkommen, machen Bukarest zu einem Ort, der Orient und Okzident vereint – den Westen ausgenommen. Multikulturalität, andernorts ein schwärmerisches soziologisches Ideal, ist hier, gewissermaßen in Gestalt nackter Nottugend, längst Realität. Bukarest ist eine andere Weltstadt: eine Weltstadt ohne Touristen.
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