Fangnetz beim Fall ins schwarze Loch

■ Die drei Telefonseelsorgen hatten an den Feiertagen Hochbetrieb / Für doppelt so viele Menschen wie an normalen Tagen war der Griff zum Hörer der letzte Ausweg aus der allumfassendenHoffnungslosigkeit

Berlin. Weihnachten, so hat Jürgen Hesse erfahren, „mobilisiert in besonderer Weise die Probleme“. Der Geschäftsführer der Telefonseelsorge macht dafür auch die aus Kindheitstagen herrührenden Verklärungen eines „großartigen und glückselig machenden Festes“ verantwortlich. Statt dessen erlebten die Erwachsenen zu Weihnachten vielfach aber einen Fall in die Einsamkeit. Weihnachten sei deshalb ein richtiges „Katastrophenfest“. An den Feiertagen, wo das Ideal der friedfertigen Gemütlichkeit hochgehalten wird, hat Jürgen Hesse täglich 120 Anrufe von verzweifelten Menschen registriert – doppelt so viele wie an „normalen“ Tagen.

Manche verlören auch den Mut und legten wieder auf, wenn sich einer der rund 100 ehrenamtlichen und acht hauptamtlichen Mitarbeiter der Telefonseelsorge meldeten. Vielleicht genüge dieser Anrufern bereits die Gewißheit, daß dort jemand ist, auf den sie zählen können, wenn ihre Situation noch unerträglicher wird, stellt sich Jürgen Hesse vor. Die Regel ist das nicht. Die große Mehrzahl derer, die manchmal weinend, immer tief verzweifelt und oft suizidgefährdet anrufen, will reden, endlich einen Zuhörer finden. Der Hilfeschrei kommt oft genug aus einem scheinbar grenzenlosen schwarzen Loch. Viele Menschen, so hat es Jürgen Hesse in seinen 15 Jahren bei der Telefonseelsorge erfahren, „haben den Glauben an ihre Möglichkeiten verloren“: „Die geben sich einfach auf.“ Da sei es Aufgabe, Wege zu weisen durch das scheinbar undurchdringliche Dunkel, die allumfassende Hoffnungslosigkeit zu verwandeln in durchaus lösbare Einzelprobleme.

Diese Gespäche bräuchten Zeit; im Durchschnitt fünfundvierzig Minuten. Die zwei Leitungen seien deshalb rund um die Uhr „gut ausgelastet“: statistisch läute es alle fünfundzwanzig Minuten, weiß Jürgen Hesse. Daß der Senat im kommenden jahr den Zuschuß für die Telefonseelsorge halbieren will, ist für Hesse deshalb nicht akzeptabel.

Vor allem Einsamkeit und Isolation lasse Menschen zu Hörer greifen, zunehmend aber auch ökonomische Probleme. Die größte Gruppe der Anrufer stellen – anders als früher – auch nicht mehr die alten Menschen, sondern die „Menschen in der Lebensmitte“ zwischen 35 und 45 Jahren. Diese Erfahrung machen auch die rund vierzig Mitarbeiter des „Telefons des Vertrauens“ in Ostberlin. Hier hat es zu Weihnachten nicht nur eine Steigerung gegenüber den anderen Tagen des Jahres gegeben; auch verglichen mit dem letzten Weihnachtsfest haben sich die Anrufe verdoppelt.

Bei sehr vielen Anrufern sei von wirtschaftlichen Problemen die Rede, von drohender Arbeitslosigkeit und unbezahlbaren Mieten, berichtet ein Psychologe, der seinen Namen nicht genannt wissen möchte. Er hat die Feiertage am Telefon verbracht und auch am gestrigen Sonntag einen achtzehnstündigen Dienst versehen. „Da bekommt man schon ein Abbild von den Problemen in der Stadt.“

Viele Anrufer wüßten, daß auch die Ärzte und Psychologen ihnen nicht direkt helfen könnten. Dennoch sei es für Menschen in Not eine seelische und psychologische Entlastung, weil endlich einmal offen über die Probleme gesprochen werde, manche erstmals den Mut aufbrächten, sich ihre Lage klar einzugestehen. Wie in Westberlin, sind es auch beim „Telefon des Vertrauens“ zunehmend die jüngeren Menschen, die in der Not zum Telefon griffen.

In Ostberlin kämen die meisten Anrufe am Abend bis Mitternacht. Ab null Uhr läute es seltener, dann aber häuften sich die dringenden Fälle. Zunehmend, so wundert man sich in Ostberlin, riefen auch Menschen aus dem Westteil an. Offenbar erwarteten diese Menschen in Ostberlin ein anderes Verständnis, hat der Psychologe als Erklärung parat. Bis zu zweieinhalb Stunden dauere manchmal das Gespräch – da ist es unverständlich, daß die Ostberliner im Gegensatz zu den beiden Westberliner Telefonseelsorgen nicht vom Telefon-Zeittakt ausgenommen ist. Gerd Nowakowski

Telefon des Vertrauens 4277002; Telefonseelsorge 11101; Kirchliches Seelsorge-Telefon 11102