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Luft zum Atmen gibt es nicht

In der sibirischen Industriemetropole Norilsk herrscht für Rußland beispielloser Wohlstand/ Bäume und Flüsse sind tot  ■ Aus Norilsk Thomas Fink und Marc Zebisch

„Szenario Norilsk: Moderne fernbeheizte Wohneinheiten weit nördlich des Polarkreises, mitten in der sibirischen Wildnis.“ Die Hymne stammt aus einer ostdeutschen Zeitung, erschienen in den 50er Jahren. Der Zeitungsschnipsel, ausgestellt im Museum von Norilsk, beschreibt kurz die Geschichte der Stadt: Kohle- und Erzfunde um 1936 sowie die mutigen und selbstlosen Taten einiger Wissenschaftler und Ingenieure ermöglichten es, Rohstoffvorkommen unerschöpflichen Ausmaßes für das Wohl der Gesellschaft aufzuschließen und die Ära des Fortschrittes in dieser Region einzuleiten. Norilsk ist heute sozialistische Musterstadt. 1953 am Reißbrett geplant und aus dem Boden gestampft. Fünf Restaurants, mehrere Supermärkte ein Theater, ein Medienhaus, gewährleisten der 350.000 Einwohner zählenden Stadt einen überdurchschnittlich hohen Lebensstandard. Slawa Trudu, es lebe die Arbeit.

Im Museum stößt man schon im nächsten Raum auf die andere Geschichte von Norilsk: Bilder aus dem Konzentrationslager Norilsk, Lebensgeschichten von Gefangenen, politischen Häftlingen, die Stalin dorthin verbannt hatte. Zu Tausenden kamen sie beim ruhmvollen sozialistischen Aufbau um, verendeten in den Bergwerken des Gulag, verhungerten oder erfroren.

Auch an die früheren Bewohner des Norilsker Gebiets erinnert das Museum. Ein ausgestellter Jagdspeer sowie ein paar vergilbte Fotos künden von den Nomadenvölkern der Nenzen und Tungsen, denen durch die Umweltzerstörung ihre Lebensgrundlage entzogen wurde.

Doch die Stadt Norilsk ist kein Museum, sondern mit ihren heute 200.000 Einwohnern einer der wichtigsten Industriestandorte Rußlands. Draußen vor dem Museum drückt die gigantische Schwefelwolke auf die Stadt, macht das Atmen schwer und läßt die Augen tränen.

Auch zweihundert Kilometer von der Industriestadt entfernt sind die Bäume nur Gerippe. Jährlich zwei Millionen Tonnen Schwefelanhydrid legen sich über die Stadt und ihre Umgebung; sie stammen aus den dicken Schwefelwolken, die aus den Schloten der Norilsker Industrieanlagen quellen. Die Menge entspricht in etwa der Schwefeldioxidemission ganz Westdeutschlands. Der Wind weht sie meist Richtung Süden, doch selbst in Richtung Norden sind in 300 Kilometer Entfernung krankhafte Veränderungen an Flechten und Moosen nachweisbar.

Norilsk, das steht heute für Erzbergwerke und Metallhütten. Die dritte Schicht für die Arbeiter des Schachts „Talnach Norilsk“ ist angebrochen. In 700 Metern Tiefe fördern sie mit modernen westlichen Maschinen die am höchsten konzentrierten Erze der Welt. Kupfer, Nickel und Platin werden unter zum Teil unglaublichen Bedingungen zu Tage gebracht.

Mit dem Ersten Ingenieur Walerij Kusnezow (Name geändert) fahren wir durch endlose Gänge bis direkt an die Abbaustellen. Aus dem Dunkel tauchen immer wieder die gewaltigen Maschinen auf, Ungeheuer mit Tentakeln und Schaufeln – wie Insekten. Nur die hohen Tiere mit den blauen Helmen können die Maschinenungeheuer noch zähmen, die Arbeiter sind ihnen ausgeliefert.

Das fahle schwache Licht der Taschenlampe tanzt zitternd die Gesteinskonturen ab. „Wir können noch mindestens tausend Jahre lang weiter abbauen“, erklärt uns Dr. Kusnezow, „im Augenblick werden nur die reichsten Adern ausgebeutet.“

Wieder im Hubschrauber, kreisen wir über der Hauptfabrik „Norilsk Nickel“ und das erst 1980 fertiggestellte größte Werk der Stadt namens „Nadjeschda“ – Hoffnung. Hier werden die geförderten Erze in extrem emissionsreichen Verfahren konzentriert und verhüttet. Immer wieder kommt es zu Unfällen, die sich, sagt die Konzernleitung, bei der vorhandenen Technik nicht vermeiden ließen. Kilometerweit erstrecken sich Schlackeberge und Abraumhalden rund um die Stadt.

Nicht nur die Atemluft und die Umgebung der Stadt fallen der dreckigen Megaindustrie zum Opfer. Die Schwermetalle, die die gigantischen Nickel- und Platinwerke in den Fluß Lama pumpen, führen in den Seen der Region regelmäßig zu Fischsterben. Hundert Kilometer entfernt sind die miteinander vernetzten Seen noch von den Abwässern der sozialistischen Musterstadt verseucht.

Mit einem Anteil von 44 Prozent an der Weltplatinproduktion steht Norilsk einsam an der Spitze. 60 bis 80 Prozent des russischen Nickels und immer noch 14 Prozent des Nickels auf dem Weltmarkt wird dort gefördert. Norilsk hat sich der neuen Zeit angepaßt. Die Metalle werden auf den internationalen Rohstoffbörsen von eigenen Brookern direkt vermarktet. Von den Einnahmen aus dem Rohstoffexport muß die Stadt nur etwa 25 Prozent an Moskau abgeben, denn sie ist eine der wenigen offiziell ausgeschriebenen autonomen Territorialen Produktionskomplexe (TPK).

Die politische und gleichzeitig ökonomische Führung des TPK Norilsk ist „Das Kombinat“. Es ist Arbeitgeber, Regierung, Verwaltung des öffentlichen Lebens und aller anderen Bereiche in einem. Mächtig residiert die Verwaltung am Ende der Leninstraße, der Hauptstraße im klassizistischen Marmorstil.

Die Regierung selbst sitzt ungefähr 150 Kilometer weiter westlich, in der Hafenstadt Dudinka am Fluß Jenisseij. Dort ankern auch die drei riesigen atomgetriebenen Eisbrecher der TPK. „Wenn die Geschäfte weiterhin so gut laufen, werden wir im nächsten Jahr Rußland die Lufttransportflotte abkaufen“, sagt stolz ein Kombinatsvertreter.

Gute Luft aber kann man in Norilsk mit noch soviel Geld nicht kaufen, nur Erholung in guter Luft. Am Bahnhof fährt ein Zug mit Kindern ein, die von ihrem Sanatoriumsaufenthalt im Süden Rußlands zurückkehren. Fahnen werden geschwenkt, Mütter weinen, Kinder zeigen stolz ihre Mitbringsel. Jedes Jahr werden die Kleinen drei Monate verschickt, um sich zu erholen, denn die hohe Schwefel- und Schwermetallbelastung der Luft und des Wassers haben die Zahl der chronisch Kranken in schwindelnde Höhen getrieben. Sechzig Prozent der Menschen in Norilsk sind krank. Am häufigsten treten chronische Haut- und Lungenkrankheiten, Bronchitis und alle Arten von Allergien auf.

Die permanente Vergiftung gehört zum akzeptierten Alltag. Doch die drei Monate währende Finsternis und Durchschnittstemperaturen von minus fünfzig Grad stellen für die Menschen hier das größte Problem dar. Die Kombinatsleitung reagiert ganz westlich. Wegen der extremen Arbeits- und Lebensbedingungen dürfen Frauen schon nach fünf Jahren, die Männer nach sieben Jahren in der Grube in Pension gehen. Dennoch bleiben die meisten freiwillig länger, denn hier werden die höchsten Löhne der GUS gezahlt. Ein normaler Arbeiter verdient monatlich 60.000 Rubel, das war (im Oktober) fast fünfzehnmal soviel wie ein Arbeiter in Moskau und dreißigmal soviel wie eine Wissenschaftlerin. Die Versorgungslage in der Stadt ist stabil, die Läden sind voll – auch mit Westwaren, die man sich hier leisten kann.

Auch wenn die Herren des Kombinats sonst allein in ihrer Welt regieren – im Umweltrecht unterliegt das Kombinat noch immer den Vorschriften Moskaus. Von dort kam wegen der katastrophalen ökologischen Situation die Androhung hoher Strafen, sollte das Kombinat keine Maßnahmen ergreifen, der Umweltzerstörung Einhalt zu gebieten. Die Kombinatsbosse reagierten ganz im Sinne der neuen Gesellschaftsordnung. Wissenschaftler aus Krasnojarsk wurden beauftragt, in Norilsk Rekultivierungsmaßnahmen durchzuführen. Hundert Meter von dem Werk Nadjeschda werden junge Weidenstecklinge in den giftigen Boden gepflanzt.

„Hier rekultivieren wir“, steht auf dem extra angefertigten Schild, „Versuchsgelände bitte nicht betreten.“ Bezahlt wird für die Rekultivierung, also müssen hier neue Bäume wachsen, obwohl selbst in hundert Kilometern Entfernung kaum mehr einer durchkommt. Die Konzernleitung hat zuerst nachgerechnet. Der Einbau von Filtern ist teuer, lieber kauft sie sich Wissenschaftler, das kommt den Konzern billiger.

Norilsk – das ist für Westbesucher auch nach mehreren Monaten vor Ort ein nicht zu lösendes Gegensatzpaar. Der suggestiven Ästhetik der unterirdischen Produktionsmaschine steht eine katastrophale Umweltzerstörung gegenüber. Eine für westliche Besucher unmögliche Wirklichkeit, ein Nicht-Ort. Und doch auch deutsche Realität. Das Platin aus Norilsk nämlich dient in Katalysatoren der Luftreinhaltung.

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