: Rios neustes Markenzeichen ist Funk
Schwarze Musik aus den USA raubt der brasilianischen Samba den Nachwuchs/ „Die größte Massenbewegung der vergangenen Zeiten“/ Flucht am Wochenende aus dem zermürbenden Alltag ■ Von Astrid Prange
In dem schwarzen Saal ist die Hölle los. Baseballkappen, schwere Silberketten, Schweißtücher, nackte männliche Oberkörper, grelle Farben und enganliegende Bustiers vermischen sich im „Atletico Clube Heliopolis“ in der Nähe von Rio de Janeiro zu einer siedenden Masse. Draußen zeigt das Thermometer 38 Grad Celsius an, drinnen ist es noch heißer. Die dröhnenden Bässe, die aus den 48 Lautsprechern wummern, bestimmen, wann die Stimmung in der Turnhalle mit den schwarzen Wänden explodiert.
Zwei Monate vor Karnevalsbeginn kocht ganz Rio de Janeiro – das ist eigentlich nichts Außergewöhnliches. Die Sambaschulen proben jedes Wochenende, der Impuls der Rhythmusgruppe, genannt Bateria, geht den Mitgliedern in Fleisch und Blut über. Doch in diesem Jahr zeigt die Jugend aus den verarmten Vororten und Elendsvierteln Rios der einheimischen Musik erstmals die kalte Schulter. Die Hüften der 12- bis 18jährigen kreisen nicht im Sambatakt, sondern wiegen sich im Funk- und Rap-Rhythmus.
Funk für Mädchen, Funk für Jungen
„Funk ist die natürliche Weiterentwicklung von Samba, er hat nur mehr Technik“, meint DJ Marlboro. Er heizt jeden Sonntag rund 6.000 Jugendlichen in Heliopolis ein, einer der gewalttätigsten Vororte von Rio. Behutsam mixt er die importierten Scheiben ineinander, würgt die Bässe ab, läßt sie dann wieder mit aller Gewalt dröhnen, bis das Publikum vor Freude johlt. Die Liebespärchen üben sich im Bumping, springen sich an, die durchgeschwitzten Körper verschmelzen miteinander für den Bruchteil einer Sekunde.
Von den Mädchen geht geballte Erotik aus: Sie besteigen einander und drücken lustvoll Becken und Busen an Gesäß und Rücken der nächsten Tanzpartnerin. Die Simulation des Geschlechtsverkehrs nennt sich „Abreibung“. Wenn die Verführerinnen mit den Kindergesichtern sich nicht gerade gegenseitig die Pobacken aufscheuern, lassen sie schlicht die Hüften kreisen und führen ihre während der ganzen Woche eingeübten Schritte vor.
Die Choreographie der Jungen wirkt dagegen eher ruppig: Die Twens machen mit markigen Schritten in klobigen, überdimensionierten Turnschuhen auf sich aufmerksam. Mit wildem Geschrei schließen sie sich zu einer Menschenschlange zusammen und brechen sich eine Bahn durch die Masse der Tanzenden. Einige protzen mit der Kraft ihrer Sprungmuskeln und wagen Überschlag und Salto.
Immer mehr Jugendliche strömen in die schwarze Turnhalle. Bei Einbruch der Dunkelheit um 21 Uhr ist der Tanzkessel bis an den Rand gefüllt. DJ Marlboro erhöht die Frequenz der Bässe pro Minute. Statt souligen Funks dringt nun aggressiver „Break“ aus den Boxen. Der Crash-Sound gleicht dem Klirren einer mit aller Gewalt eingeworfenen Fensterscheibe. Lichtpunkte tanzen durch den Saal, Schweißperlen glitzern in den farbigen Spotlights.
Marlboro beginnt mit seiner Scratcheinlage. Behende unterbricht er den „Melo do Terror“ (Terrormix), spult den Refrain bis zum Exzeß vor und zurück, bedient seine beiden Plattenspieler zunächst mit verbundenen Augen, dann mit den Füßen und kitzelt die begeisterte Masse in eine Art Freudenrausch. Der 29jährige, seit zehn Jahren im Geschäft, ist ein echter Profi: 1988 „scratchte“ er sich bei der Weltmeisterschaft der DJs in den USA auf den zweiten Platz.
„Ganz Brasilien steht heute auf Miami-based Funk,“ behauptet Marlboro. Nur São Paulo sei wie New York, dort hätten die Polit- Rapper das Sagen. Das Publikum in Rio und im sonstigen Brasilien wolle tanzen und sei an Protestsongs und Unterdrückungslamenti nicht interessiert.
Mit „schwarzem Stolz“ haben die Bälle nichts zu tun
Vor etwa zwanzig Jahren, als der Funk aus den USA nach Brasilien kam, galt die Musikrichtung als radikale Fortsetzung des „Black Soul“. James Browns Hit „Say it loud – I'm black and I'm proud“ war der Renner in allen Diskotheken. Schwarze Politiker verteilten ihre Flugblätter in der Szene, und Bürgerrechtsbewegungen appellierten an die benachteiligte brasilianische Bevölkerung aus den Elendsvierteln, genannt Favelas, sich ihrer „afrikanischen Wurzeln“ zu erinnern.
Heute ist der „schwarze Stolz“ auf ein Minimum zusammengeschmolzen. Obwohl die Mehrheit der „Funker“ nach wie vor dunkelhäutig ist, haben die KämpferInnen schwarzer Bürgerrechtsvereinigungen die Funk-Bälle als Forum politischer Bewußtseinsbildung abgeschrieben. Die rund 5.000 Diskjockeys in Rio de Janeiro spielen nur, was ihr Publikum hören will. „Die Leute kommen zum Tanzen, nicht um Vorträge anzuhören“, stellt ein Funker in Heliopolis klar.
Für Hermano Vianna, der über das Thema „Funk in Rio“ seine Magisterarbeit geschrieben hat, sind die DJs „Massentherapeuten“. „Für die Teenager aus den Favelas, die unter der Woche stupide Arbeiten für einen Mindestlohn verrichten, sind die Funk- Bälle das einzige Ventil, den Frust abzulassen.“ Es sei unmöglich, daß ein DJ seine eigene Tätigkeit phänomenal fände, die Tänzer aber für unfähig hielte, dies auch zu erkennen. „Es gibt kein kaltes Publikum“, meint der Anthropologe.
Nach zwanzig Jahren Funk in den Vororten von Rio scheint nun auch den Einwohnern der vornehmen Südzone die Dimension des musikalischen Unterfangens zu dämmern. Über 1,5 Millionen Teenager toben sich jedes Wochenende auf den rund 500 Funk- Bällen aus. Wenn es keine Funk- Bälle gäbe, so die gängige Meinung unter den Fans, wäre die Gewalttätigkeit und Kriminalität in der Stadt nicht mehr zu kontrollieren. „Dies ist die größte Massenbewegung der vergangenen Zeiten“, meint die Anthropologin Maria Teresa Monteiro. Früher oder später müsse die Stadt dies zur Kenntnis nehmen. „Am besten, bevor der Druckkochtopf explodiert“, rät sie.
Im Auftrag der brasilianischen Werbevereinigung (Abasp) spürte Maria Monteiro den Wesensmerkmalen des „Carioca“, wie sich die Einwohner Rios nennen, in den 90er Jahren nach. Fazit: Rios Markenzeichen ist Funk. Der typische Anwohner der Copacabana sei nicht nur vergnügungssüchtig, sinnlich, narzißtisch, künstlerisch und aufrührerisch veranlangt, sondern auch dem Funk verfallen, meint die Forscherin.
Die soziale Funktion von Samba und Funk ist die gleiche
Die Sogkraft des souligen Magenkickers ist unbestreitbar. Die Sambaschulen, denen der Nachwuchs ausbleibt, heuern am Wochenende verstärkt Diskjockeys an und veranstalten selber Funk-Bälle in ihren Räumen. Die Hinwendung des Samba-Publikums zum Funk muß nicht unbedingt das Ende der einheimischen Rhythmen bedeuten. Vielmehr scheint sich eine Art friedliche Koexistenz der unterschiedlichen Musikstile herauszubilden: Auf jedem Funk-Ball werden in verschiedenen Nebenräumen gleichzeitig Rock und brasilianische Musik gespielt.
Die Funktion des sozialen Ventils ist bei Samba und Funk dieselbe. Doch der Funk hat einen entscheidenden Vorteil: Er reißt seine Fans jedes Wochenende aus ihrem zermürbenden und tristen Alltag heraus. Die Sambaschulen hingegen verhelfen ihren Mitgliedern nur einmal im Jahr zum Freudenrausch. Schlägereien, Striptease sowie eine permanent schlechte Presse konnten die Funk-Bewegung bisher nicht kleinkriegen. Im Gegenteil: Laut DJ Marlboro unterwandern immer mehr „kleine Playboys“ aus der wohlhabenden Südzone die Funk-Szene.
„Funk ist die neue Identität von Rio“
DJ Marlboro verdient sich mit dem Funk heute seinen Lebensunterhalt. Neben seinem täglichen Radioprogramm produziert er massenweise Platten brasilianischer Rapper. Die nationale Plattenindustrie beginnt erst jetzt zögerlich, das enorme Funk-Publikum auch für sich zu entdecken. Schon heute verkaufen sich die an die brasilianische Realität angepaßten „Melos“ besser als das alljährliche Album der Samabaschulen mit ihren neuesten Hits. „Mit der Nationalisierung des Funks hat die Bewegung abgehoben. Vor allem die Kinder sind funksüchtig“, meint Marlboro.
Maria Monteiro vergleicht den Aufstieg des Funk mit dem der Samba vor hundert Jahren: „Damals war Samba eine Sache der Schwarzen, die Weißen beteiligten sich lediglich als Zuschauer. Heute macht Rios Elite bei den Karnevalsumzügen mit.“ Die Anthropologin drängt darauf, dem Funk endlich die notwendige Anerkennung zukommen zu lassen. „Funk ist die neue Identität von Rio. Die Musik hält Millionen von Jugendlichen davon ab, auf die schiefe Bahn zu geraten.“
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