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Über vierhundert Tote an der DDR-Grenze

■ Kriminalitätsbilanz des ZERV-Leiters Kittlaus: 18 Milliarden Mark Schaden, davon 10 Prozent wieder gesichert

Berlin. Auf 18 Milliarden Mark beläuft sich der Schaden, der durch illegale Geschäfte und Transaktionen bei der Vereinigung Deutschlands enstanden ist. Diese Zahl meldete dieser Tage die Zentrale Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (ZERV) an das Bundesinnenministerium. Bislang war man von einer Summe von 6 Milliarden Mark ausgegangen, die in dunkle Kanäle floß. Zu den Chancen, das Geld wiederzuerlangen, befragte die taz den Leiter der in Berlin angesiedelten ZERV, Manfred Kittlaus.

taz: Herr Kittlaus, der unter dem Stichwort Vereinigungskriminalität verbuchte Schaden wird mittlerweile auf 18 Milliarden Mark geschätzt. Ist das erst eine vorläufige oder ist das schon die Endbilanz?

Manfred Kittlaus: Das ist noch keine Endbilanz, weil wir noch am Anfang sind und wir erst jetzt, in den letzten zwei, drei Monaten beginnen können, systematisch zu ermitteln. Die Summe umfaßt auch nicht nur die Schäden aus der Vereinigungs-, sondern auch aus der Regierungs- und Funktionärskriminalität. Es ist natürlich eine Hochrechnung, präzise berechnen kann man den Schaden zur Zeit noch nicht.

Welche Tätertypen waren am Werke?

Es handelt sich zum einen um ehemalige Staatsfunktionäre, die im Zuge der Vereinigung Vermögenswerte beiseite geschafft haben und die jetzt versuchen, diese wieder in den normalen Wirtschaftskreislauf zurückzuführen. Zum anderen sind es Täter aus dem Bereich der organisierten Wirtschaftskriminalität der alten Bundesländer, die hier ein neues Betätigungsfeld gefunden haben. Dann gibt es noch den großen Bereich der Währungsumstellung, mit kleinen Umstellungsbetrügern, deren Verfolgung aus Kapazitätsgründen im Augenblick nicht im Vordergrund steht, aber auch größeren Schadenssummen von 100.000 Mark und mehr. Zudem ist noch die große Zahl von Vermögensverfügungen bei Immoblilien- und Grundstücksverkäufen zu nennen, bei denen Verdachtsmomente für betrügerische Handlungen gegeben sind.

Wo wurde denn am meisten abgesahnt?

Die großen Summen findet man in den Einzelfällen, in denen bei der Privatisierung von großen Betrieben unlauter gearbeitet wurde. Große Summen findet man aber auch im Immobliliengeschäft und im Bereich der Währungsumstellung...

Können Sie ein paar Beispiele nennen...

Das will ich gerade nicht. Ich möchte zu Einzelfällen grundsätzlich nicht Stellung nehmen.

Sehen Sie Chancen, zumindest Teile der Schadenssumme zurückzuerhalten?

Wir sehen Chancen, weil wir jetzt die Phase des Geldwaschens haben, in der das Geld in den normalen Wirtschaftskreislauf zurückgeführt wird. Wenn wir hier hineingreifen, haben wir gute Chancen, zudem können wir auf Beweismittel zurückgreifen, die sich in Buchhaltungen, Archiven und sonstigen Unterlagen befinden.

Kann man das beziffern?

Es sind bis jetzt 1,6 bis 1,7 Milliarden Mark auf unterschiedlichen Wegen sichergestellt worden.

Läßt sich schon eine genaue Zahl der an der Grenze der ehemaligen DDR umgekommenen Personen nennen?

Nach unseren Erkenntnissen sind etwa vierhundert Todesfälle bekannt. Wir sind aber dabei, die Unterlagen systematisch auszuwerten und stoßen immer wieder auf neue Fälle.

Sie gehen davon aus, daß sich diese Zahl noch erhöht?

Ja, das muß man. Diese Zahl geht jedoch nicht in die tausend. Wir überprüfen zur Zeit systematisch die etwa tausend Todesfälle in der Ostsee. Darunter gibt es Fälle, die angeblich eines natürlichen Todes gestorben sind, bei denen wir jedoch annehmen, daß sie auf der Flucht von den Grenzorganen der DDR erschossen wurden oder anderweitig umgekommen sind. Es wird natürlich schwierig sein, bei jemandem, der mit einem Faltboot oder ohne Hilfsmittel flüchtete und dabei ertrunken ist, eine strafrechliche Verantwortung zuzuordnen. Aber es gibt auch Fälle, wo man aktives Tun von Grenzorganen feststellen kann. Interview: Dieter Rulff

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