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Kohl gegen „Wildwuchs bei Sozialleistungen“

■ Unterstützung für Waigels Sparpläne/ Höhere Arbeitslosigkeit erwartet

Hamburg (dpa/AFP/taz) – Bundeskanzler Helmut Kohl hat gestern die Sparpläne von Bundesfinanzminister Theo Waigel verteidigt. Er ging allerdings nicht direkt auf die vom CSU-Chef angekündigte dreiprozentige Kürzung von Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe ein. Der „Wildwuchs bei den Sozialleistungen“ müsse beschnitten werden, sagte der Kanzler. Den Solidarpakt bezeichnete Kohl als „Stück Abschlagszahlung“ auf die gemeinsame Zukunft. Jetzt, so Kohl, sei der Zeitpunkt gekommen, einmal „jene zu betrachten, die die Solidargemeinschaft ausbeuten“. Es sei nicht in Ordnung, „wenn jemand im Bereich der Sozialhilfe“, ohne eine Leistung zu erbringen, mehr im Monat von der Solidargemeinschaft bekomme als derjenige, der arbeite.

Den Beteiligten am geplanten Solidarpakt sicherte Kohl erneut zu, bei den Gesprächen seien die Renten „tabu“. Ansonsten gehöre alles auf den Prüfstand. Vor allem in der alten Bundesrepublik habe man „in einer ganzen Reihe von Feldern über seine Verhältnisse“ gelebt.

Die Gewerkschaften wollen dagegen am Solidarpakt nur mitwirken, wenn die Bundesregierung auf „unsoziale Streichlisten bei den Armen verzichtet“. Das betonte die stellvertretende DGB-Vorsitzende Ursula Engelen-Kefer. Auch Angriffe auf die Tarifautonomie sollten unterbleiben.

Für eine Wiedereinführung des Solidaritätszuschlages im Rahmen eines Solidarpaktes hat sich unterdessen der stellvertretende Vorsitzende der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Heiner Geißler, ausgesprochen. Er sagte, ein solcher Zuschlag – begrenzt auf vier Jahre – müsse sich nach der Höhe der Steuerschuld richten. Es sei kaum zu verstehen, daß nach dem Wegfall des Solidaritätszuschlages im vergangenen Sommer Beamte und Selbständige keine Mark mehr Steuern zahlten als vor der Einheit. Geißler plädierte dafür, Sozialleistungen nur denen zu gewähren, die sie auch wirklich brauchen. Es sei nicht einzusehen, warum Personen mit hohem Einkommen Kindergeld und hohe Kinderfreibeträge bekämen. Wer viel Geld verdiene, brauche nicht auch noch staatliche Transferleistungen.

Hessens Ministerpräsident Hans Eichel verlangte, in einem Solidarpakt auch zu klären, was gegen Wohnungsnot und die „enormen Mietpreissteigerungen“ getan werden könne. Nötig sei eine Änderung des Miet- und Bodenrechts, um Wohnungsbau bezahlbar zu machen, sagte der SPD-Politiker. Eichel schlug unter anderem vor, von einer bestimmten Höhe an Bodenpreise abzuschöpfen und dieses Geld für den Wohnungsbau zu verwenden.

Der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, rechnet für dieses Jahr mit einem Anstieg der Arbeitslosenzahlen in den alten Ländern auf zwei Millionen oder mehr. In den neuen Ländern werde mit knapp 1,2 Millionen Arbeitslosen der Tiefstpunkt der Beschäftigung erreicht. Zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit werde es in Ostdeutschland frühestens von 1994 an kommen. Im November waren im Westen 1,885 Millionen Menschen arbeitslos und im Osten 1,086 Millionen.

Aufgrund knapper Mittel könnten die Arbeitsämter leider nicht mehr in dem Maße gegensteuern, wie sie es gerne täten, schrieb Franke. Bundesarbeitsminister Norbert Blüm hat am Samstag den Haushaltsplan 1993 der Bundesanstalt für Arbeit zum 1. Januar in Kraft gesetzt. Der Minister setzte sich damit über Einwände der Selbstverwaltung der Bundesanstalt gegen Kürzungen der Etatmittel hinweg.

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