■ Nach dem Mord in Sarajevo und vor dem Scheitern in Genf: Scheindebatten und Realpolitik
Der Ermordung des bosnischen Vizeministerpräsidenten Hakija Turalić hätte es nicht mehr bedurft. Die offene Brüskierung der UNO durch die Schüsse von Sarajevo wäre nicht mehr nötig gewesen. Schon die dezidierte Weigerung des bosnischen Serbenführers Karadžić, den neuesten Vorschlag von Owen und Vance auch nur im Ansatz zu akzeptieren, mußte nun selbst den blindesten Politikern die Augen öffnen: Im Fall Bosnien-Herzegowina ist die Diplomatie am Ende. Die Reise nach Belgrad, um Milošević zu bewegen, auf Karadžić Druck auszuüben, hätten sich die beiden Kopräsidenten der Genfer Jugoslawien-Konferenz sparen können. Jetzt wo das Debakel offensichtlich ist, wird die Frage einer militärischen Intervention ins Zentrum der öffentlichen Debatte gerückt werden. Szenarien werden diskutiert. Das Karussell von Drohungen, Krisensitzungen, Vieraugengesprächen, Ultimaten und letzten Verhandlungsrunden wird sich nun noch schneller drehen. Doch kann das nicht darüber hinwegtäuschen, daß es in der Balkan- Politik weiterhin an einem koordinierten politischen Willen der westlichen Welt mangelt. Zu einer militärischen Intervention, die zu einer entscheidenden Veränderung der Lage führen könnte, wird es nicht kommen. Dazu ist es nun offenbar zu spät.
Erst mußte Vukovar fallen, mußten Hunderttausende vertrieben werden, bis die UNO in den ursprünglich gemischt besiedelten Gebieten Kroatiens Blauhelme stationierte. Erst mußte Bosnien-Herzegowina weitgehend ethnisch gesäubert sein, mußten Zehntausende von Frauen vergewaltigt werden, mußten über hunderttausend Menschen ermordet sein, bis die Chefdiplomaten von Genf ihre Niederlage öffentlich eingestanden. Sie haben es am 2. Januar getan. Ihr Vorschlag, Bosnien-Herzegowina im wesentlichen nach ethnischen Kriterien in zehn weitgehend autonome Provinzen mit eigenen Regierungen, Parlamenten und zum Teil auch Streitkräften aufzuteilen, war die Abkehr von den feierlich verkündeten Prinzipien der Londoner Konferenz vom August 1992, wonach die Souveränität des international anerkannten Staates Bosnien-Herzegowina wiederhergestellt werden muß und militärisch geschaffene Tatsachen nicht akzeptiert werden. Vance und Owen haben vor den bosnisch-serbischen Kriegsherren kapituliert. Doch nicht einmal diese Kapitulation wußte der undankbare Karadžić zu würdigen. Er beharrt weiterhin auf der Errichtung eines eigenen bosnisch-serbischen Staates, der sich wohl bald in freier Ausübung des Selbstbestimmungsrechts Serbien anschließen würde.
Im vergangenen Sommer hätte eine begrenzte militärische Intervention, die Zerstörung von Flugplätzen und Basen schwerer Artillerie, die Errichtung von UNO-Schutzzonen für die bedrängten Muslime zwar dem Krieg kein Ende gesetzt, doch den Aggressoren deutlich signalisiert, daß Eroberungspolitik und ethnische Säuberungen nicht akzeptiert werden. Doch die Politiker konnten sich nicht einmal darauf einigen, wirtschaftliche Sanktionen gegen Serbien, dessen logistischer Hilfe und materieller Unterstützung Karadžićs Truppen den Erfolg ihrer mörderischen Strategie verdanken, ernsthaft durchzusetzen. Während in der Adria mit großem publizistischen Aufwand eine Armada von Kriegsschiffen stationiert wurde, bemühte man sich zu keiner Zeit ernsthaft, die Donau und die Landgrenze effektiv zu überwachen und notfalls militärisch zu blockieren.
Wenn heute eine militärische Intervention erwogen wird, ist nicht einmal mehr das Ziel klar. Die Wiederherstellung der Souveränität Bosnien-Herzegowinas kann es nun schwerlich sein, nachdem die obersten Verhandlungsführer von UNO und EG darauf verzichtet und den legitimen Präsidenten der Republik, Alija Izetbegović, damit öffentlich desavouiert haben. Die militärische Durchsetzung des Flugverbots ist heute, wo die bosnischen Serben ihre Kriegsziele weitgehend erreicht haben, von geringer Bedeutung. Zur Ausschaltung der Basen schwerer Artillerie aus der Luft oder gar zum Einsatz von Bodentruppen würden im UN-Sicherheitsrat die Russen wohl ihr Plazet verweigern, zumal eine antiserbische Position zu Hause in Moskau der nationalistischen Opposition in die Hände spielt. Im übrigen könnten bei jeder militärischen Intervention, die die serbische Seite entscheidend schwächt, über Nacht einige tausend Blauhelme zu Geiseln werden. Die UNO-Truppen aber vorher aus Sicherheitsgründen abzuziehen würde in Sarajevo, Goražde, Tuzla, Brčko und Dutzenden weiteren Städten noch mehr Menschen dem Tod durch Hunger und Kälte preisgeben.
Während nun alle von einer militärischen Intervention sprechen, spricht objektiv also immer mehr dagegen: Anders als im vergangenen Sommer ist heute das ursprüngliche politische Ziel aufgegeben, die ethnische Säuberung weitgehend vollzogen, wankt die russische Position und steht der Massentod durch Hunger und Kälte vor der Tür. So bleibt vorerst realpolitisch vielleicht nur ein Ziel: möglichst viele Menschen über diesen Winter hinwegzuretten. Wo im einzelnen die militärische Sicherung von Korridoren zu belagerten oder umkämpften Städten, um die Bevölkerung mit dem Allernötigsten zu versorgen, durchgesetzt werden soll, wird eine Frage der Risikoabwägung sein. Der Krieg wird auf jeden Fall weitergehen, selbst wenn die serbische Seite sich zu einem Waffenstillstand bereit erklären sollte. Man kann es der bosnischen Regierung nicht verdenken, daß sie aus eigenen Kräften versucht, was die internationale Gemeinschaft nicht schafft und wohl seit längerem auch nicht mehr schaffen wollte: die Wiederherstellung eines multiethnischen souveränen Staates. Thomas Schmid
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