: Sample over, Beethoven
Das New Yorker Indie-Label Shimmy Disc ist über 50 ■ Von Kirsten Niemann
Independent-Musik ist heutzutage Label-Sache. Die Leute kaufen nach Marken: New Rose, Creation, Talkin' Loud und – vor allem – SubPop. Manche kaufen auch Shimmy Disc. Doch im Gegensatz zu SubPop aus Seattle, das spätestens seit dem Mega-Erfolg von Nirvana in aller Munde ist, hat sich das New Yorker Label Shimmy Disc mit seinen gerade 50 Produktionen bisher recht wenig um kommerzielle Erfolge geschert. Shimmy-Disc-Platten zu mögen, ist nicht nur eine Frage des guten Geschmacks, sondern auch – immer noch – eine Lebensanschauung.
Bei einem Besuch vor Ort – er soll dazu dienen, einige der bis dahin erschienenen Platten nachzukaufen – werden schnell auch geringste Erwartungen an repräsentative Erscheinungsformen noch reduziert. Von außen wirkt das Haus völlig normal. Der Pförtner erklärt sich zwar für nicht zuständig, läßt uns aber freundlicherweise passieren – in ein Lager für Autoersatzteile. Nachdem wir unsere alpinistischen Fähigkeiten an Hunderten von Kartons erproben mußten, erreichen wir die Shimmy-Zentrale. Sie hat ungefähr die Ausmaße einer durchschnittlichen Garage und den Charme einer Wellblechhütte. Aber wunderbarerweise erwartet man uns bereits, und das freundliche Versandarbeiter-Pärchen zaubert auch sofort aus Kisten, die bis unter die Decke gestapelt sind, unsere Plattenwünsche hervor. Obendrein beschenken die Leute uns mit neuem, bislang unveröffentlichtem Demo- Material. Für uns ist das, als falle Geburtstag und Weihnachten auf einen Tag: Bei Shimmy-Disc-Platten weiß man nämlich vorher nie, was auf einen zukommt.
Shimmy Disc deckt eine enorme Bandbreite an Musik ab, Musik, die allerdings mit traditionellen Rock- und Wave-Vorstellungen meist wenig gemein hat. Die Musiker nehmen – in bester Indie-Ur- Tradition – wenig bis gar keine Rücksicht auf den Zuhörer. Das eigene Konzept und der Spaß an der Sache stehen im Vordergrund. Dabei kommt dann oft etwas heraus, das zwischen den Grenzen von Trash, Humor und echtem musikalischem Können gratwandert. Auch nach mittlerweile fünfjährigem Bestehen ist das Label noch ein Treffpunkt von Randfiguren, deren musikalisch-menschliche Wurzeln in der Drogenfresserei der Swinging Sixties liegen. Die erste Shimmy-Platte, die 1987 erschien, hieß exemplarisch „The 20th Anniversary of the Summer of Love“. Auf dieser Einführung, die viele der späteren Shimmy- Bands erstmals vorstellte, waren neben den vor Selbstbewußtsein strotzenden Debütanden auch bekannte Altmeister der Avantgarde wie Fred Frith und die mittlerweile schon etwas angeschimmelte Fugs- Legende Tuli Kupferberg vertreten. Flagschiff des Labels und von Anfang an dabei ist Bongwater, die Band des Labelchefs Mark Kramer. Kramer und Ann Magnuson, Performancekünstlerin und TV- Star, machen dem Bandnamen alle Ehre: Vor einem „psychedelischen“ Hintergrund, der mal mehr, mal weniger exzentrisch, aber stets ausgezeichnet produziert ist, erzählt Ann Magnuson Geschichten mit surrealistischem Einschlag – von dekadenten iranischen Country-Clubs oder von der morbiden Eitelkeit eines David Bowie, Jimmy Page oder Robert Plant. Mit ihrer jüngsten LP „The big Sell-Out“ lieferten Bongwater denn auch die Jubelveröffentlichung (Shimmy 50!). Anekdote am Rande: Ein etwas voreiliger Moderator des Jugendsenders DT64 witterte hinter diesem Titel den Bankrott des Labels – und kündigte das nahe Ende an.
Das Gegenteil ist richtig: Bongwater ist diejenige unter den Shimmy-Bands, deren Platten das meiste Geld einspielen. „The big Sell- Out“ ist weder ein Indiz für den Ausverkauf noch Verrat am Hörer, es handelt sich vielmehr um eine ironische Auseinandersetzung mit dem Thema „Geld verdienen als Künstler“. Magnuson und Kramer posieren auf dem Cover in Klamotten von Armani und Aliä wie Fotomodelle eines Hochglanz-Modemagazins. Es werden Hitsingles als „included“ angekündigt, die als Auskoppelungen gar nicht existieren. Kommentar der Band: „Why haven't we signed to a major? Here's your answer, so we don't have to hear that stupid fucking question again.“
Shimmy Disc ist jedoch nicht nur ein idyllischer Hort humorvoller Spät-Psychedeliker. Auch geniale Dilettanten wie Daniel Johnston haben dort ihr Biotop gefunden. Johnstons Lieder sind zwar mitunter von stupender Aufdringlichkeit, aber charmant! Auf seinem jüngsten Werk „Artistic Vice“ (Shimmy49) brachte er es zum Beispiel fertig, die angeblich sechs Gitarren wie nur eine einzige (oder noch weniger) klingen zu lassen. Dabei ist seine Stimme so dünn wie billige Frischhaltefolie – man fürchtet, sie könne jeden Augenblick reißen. Johnston litt jahrelang an Depressionen, weil er sich immer wieder fragte: „Kann ich singen?“ Das klingt traurig, sollte aber niemanden Fan verschrecken. Daniel Johnstons Lieder sind zweifellos phänomenal, und wie man hört, ging es ihm zwischenzeitlich auch schon besser.
Nicht viel weniger seltsam ist die Poesie eines John S. Hall, der er auf „Real Men“ (Shimmy42) freien Lauf läßt. Über den Samples von Kramer (übrigens bei fast allen Produktionen dabei) – sie reichen von Beethoven über Johann Strauß und Ravi Shankar bis hin zu N.W.A. – vertritt Hall die Theorie, in Wirklichkeit habe Francis Bacon die Stücke von Shakespeare geschrieben. Politisches Problembewußtsein klingt bei ihm so: „If most of us were wind-up toys, could we trust the few who are not to wind us up? I think not!“ Noch Fragen? Halls eigentliche Band King Missile ist mittlerweile beim Major „Atlantic“ unter Vertrag. Sein einstiger Mitstreiter Dogbowl (alias Steven Tunney) veröffentlicht nun dieser Tage sein drittes Solo-Album „Flan“ auf Shimmy Disc. Aus der ursprünglichen Skurrilität von King Missile wurde ambitionierter Pop. Außerdem erscheinen bei uns in dieser Woche noch neue Produktionen von Lida Husik, False Front und Uncle Wiggly. Während Lida Husik mit „Your Bag“ – dem zweiten Solo- Album auf Shimmy Disc – in gewohnter Manier bemerkenswert kühle und sparsam instrumentierte Lieder vorlegt, sind Uncle Wiggly und False Front absolute Neuentdeckungen. Uncle Wigglys „Across the Room and into your Lap“ klingt wie eine Mischung aus alten Pink Floyd und frühen Pixies. „Dude“ von False Front ist die Neuerscheinung, die am meisten rockorientiert ist. Man darf sich aufrichtig darüber freuen, daß mit diesen vier Alben nun die 50 überschritten und die Shimmy Disc eigene Label-Note selbstbewußt kontinuierlich fortgesetzt wird.
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