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„Sie gehorchten ihm aufs Wort“

In Münster steht ein Erzieher vor Gericht, der jahrelang in zwei Montessori-Kinderhäusern mindestens 54 Kinder mißbraucht haben soll/ Richter: „Ein in jeder Hinsicht schreckliches Verfahren“  ■ Aus Münster Walter Jakobs

Die Frage kommt jedem journalistischen Beobachter ebenso wie Eltern und ErzieherInnen zu allererst: Ist es denn überhaupt denkbar, allein von der Umsetzung her vorstellbar, daß ein Erzieher über Jahre hinweg ihm anvertraute Kinder auf widerlichste Art sexuell mißbraucht, ohne daß KollegInnen und Eltern etwas merken, ohne daß Kinder darüber sprechen?

Klaus-Dieter Walden, Vorsitzender der ersten großen Strafkammer am Münsteraner Landgericht, formuliert diese Frage so: „Halten Sie die angeklagten Taten – unabhängig vom Angeklagten – denn rein technisch für realistisch?“ Kirsten B., eine der Erzieherinnen, die mit dem Angeklagten Rainer M. im Coesfelder Montessori-Kinderhaus von Oktober 1989 bis März 1991 zusammengearbeitet hatte, sagte am vergangenen Freitag vor Gericht nach kurzem Zögern: „Es scheint unglaublich, aber ich halte es technisch und zeitlich für möglich.“ Ihre Kollegin Irene H.: „Ich kann es mir nicht vorstellen, aber es hat dies gegeben, weil ich den Kindern glaube.“

Das Unvorstellbare trug die Staatsanwaltschaft zu Prozeßbeginn am 13. Dezember letzten Jahres gleich zweimal vor: zunächst wurde die komplette Anklageschrift hinter verschlossenen Türen verlesen, danach im Lichte der Öffentlichkeit ohne Namensnennung der Kinder. Mindestens 54 Mädchen und Jungen im Alter zwischen fünf und sieben Jahren soll der 33jährige Erzieher laut Anklage zwischen 1983 und 1991 in Montessori-Kinderhäusern in Borken und Coesfeld sexuell mißbraucht haben.

Einige der in der Anklage enthaltenen Abscheulichkeiten müssen hier genannt werden. Nach den Aussagen der Kinder kam es nicht nur zur wiederholten Penetration von Mädchen und Jungen durch den Angeklagten, sondern er soll einigen auch in den Mund uriniert und ejakuliert haben. Immer wieder habe er die ihm anvertrauten Kinder zum Essen seiner Exkremente gezwungen. Manchmal mischte er laut Anklage dabei seinen Kot mit Schokolade, und „die Kinder mußten mit einem Löffel davon essen“.

Lassen Kinder derartige Exzesse über sich ergehen, ohne darüber zu sprechen? Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft besteht daran kein Zweifel. Sie geht davon aus, daß die Kinder durch massive Drohungen zum Schweigen gebracht wurden. Wer rede, so soll der Angeklagte gedroht haben, bekomme „von Soldaten des Bundeskanzlers den Kopf abgeschlagen“ oder werde „in der Mitte durchgeschnitten“. Eltern würden ins Gefängnis kommen oder „tot gezaubert“, ein „Krokodil die Mutter fressen“ oder der Zahnarzt die „Backe durchbohren“.

Rainer M. sagt, er habe mit den Vorwürfen „nichts, aber auch gar nichts zu tun“. Eingerahmt von seinen beiden Verteidigern, verfolgt der Angeklagte die Zeugenaussagen mit meist leicht nach vorne gebeugtem Kopf, interessiert, aber ohne jede sichtbare emotionale Regung. Seidenblouson, Jeans, Schnäuzer samt Dreitagebart, ein eher gut aussehender Mister Jedermann. Auffälligkeiten? Sichtbar keine! Auch seine Biographie gibt wenig her. Er kam schon als Säugling zu Adoptiveltern. Als er als 14jähriger davon erfuhr, hat ihn das offenbar sehr beschäftigt. Bei einer Supervision im Kinderhaus spricht er diesen Hintergrund an. Das habe ihn sehr „bedrückt“, vermutet eine Ex-Kollegin.

Im Gutachten des Berliner Sachverständigen Professor Rasch findet sich nach Aussage von Verteidiger Röttgering nichts Belastendes. Nach dem Gutachten weise sein Mandant „keinerlei Auffälligkeiten“ auf.

Als „einfühlsam, sensibel und liebevoll im Umgang mit den Kindern“ beschrieb die Leiterin des Coesfelder Kinderhauses den Angeklagten vor Gericht. Bis zum Februar 1991, als die Eltern eines Kindes den ersten Verdacht äußerten, galt der Angeklagte allen Erzieherinnen des Kinderhauses als ein zwar etwas verschlossener, aber ansonsten ganz normaler Kollege. Irene H., die seinerzeit ein „gutes, persönliches Verhältnis“ zum Angeklagten hatte, glaubt im „nachhinein“, daß alle Erzieherinnen Signale der Kinder übersehen hätten. Einige Kinder seien sehr verängstigt gewesen, andere besonders aggressiv, und ein Mädchen hätte zu Hause immer geträumt, daß „Männer auf ihr drauf lägen“. Dafür, so Irene H. „hatten wir keine Erklärung“. An Rainer M. sei ihr lediglich aufgefallen, „daß er immer sehr nervös war“ und bei persönlichen Dingen ausgewichen sei. Unfair sei er oft mit der Köchin und dem Hausmeister umgegangen. Letzteren habe er regelrecht „getriezt“.

Direkte sexuelle Handlungen des Angeklagten hat niemand von den erwachsenen ZeugInnen beobachtet. Im „nachhinein“ wirft sich aber auch Kirsten B. vor, „deutliche Signale der Kinder nicht verstanden zu haben“. Immer wieder werden die Zeugenaussagen mit dieser Formel eingeleitet: „Im nachhinein“. Da fällt der Zeugin der intensive Körperkontakt zwischen den Kindern und dem Angeklagten ein. Sie spricht von einer „unheimlichen Nähe“. Was ihr noch aufgefallen ist? „Selbst die aggressivsten Kinder parierten bei Herrn M. sofort. Er war dabei immer ganz leise. Ich habe ihn nie schreien gehört.“

Am 7. März 1991 sind Rainer M. die Vorwürfe im Kinderhaus offiziell mitgeteilt worden. Kirsten B. beschreibt das so: „Er reagierte mit einer Mischung aus Empörung und Verzweiflung. Er hat gezittert und geweint und ist zusammengebrochen. Ich glaube nicht, daß er überrascht war. Er hat zwar so getan, aber mir schien das nicht glaubhaft.“ Schien ihr das damals schon so oder erst „im nachhinein“? Verteidiger Röttgering wird bei solchen Schilderungen immer hellwach, denn heute, so seine Kritik, „fängt jeder an zu interpretieren“.

Tatsächlich kamen einige Zeuginnen im Laufe der Zeit zu gegensätzlichen Einschätzungen. So hatte die Erzieherin Simone B. noch gegenüber der Polizei erklärt, sie traue dem Angeklagten die Verbrechen „nicht zu“. Am vergangenen Freitag im Gerichtssaal sagte sie dann das genaue Gegenteil. Der Verteidiger zitierte während der Verhandlung aus einem Brief der Zeugin an seinen in U- Haft sitzenden Mandanten, in dem die Ex-Kollegin ankündigt, alles zu tun, um dem Angeklagten „das Leben so schwer wie möglich zu machen“. Ja, bekennt die 27jährige im Zeugenstand, „es wäre schön, wenn ich das könnte.“

Wie läßt sich das tatsächlich Geschehene beweisen? Die Verteidigung weist immer wieder darauf hin, daß die ganze Anklage „nur und ausschließlich auf den Aussagen der Kinder“ fuße. Wie glaubwürdig aber sind deren Schilderungen? Die meisten ExpertInnen bezweifeln den Wahrheitsgehalt der Kinderaussagen bei sexuellem Mißbrauch nicht. „Es ist unwahrscheinlich, daß ein Kind lügt; je jünger das Kind, desto wahrscheinlicher sind seine Aussagen“, so etwa Dr. Dieffenbach, Chefarzt einer Kinderklinik, jüngst auf einem Jugendschutzforum in Haltern. Sibylle von Bethusy-Huc, Rechtsanwältin und Vertreterin der als Nebenkläger auftretenden Eltern, hat schon viele Mißbrauchsverfahren hinter sich. Sie ist sich sicher, „daß Kinder kaum in der Lage sind, differenziert zu lügen“. Martina Urra, Mitarbeiterin der „Zartbitter“-Beratungsstelle für mißbrauchte Kinder in Coesfeld und in dem konkreten Fall auch als Beraterin tätig, hat ebenfalls „keinen Zweifel daran“, daß die Schilderungen der Kinder zutreffen. Für Verteidiger Röttgering liegen dagegen in der „Befragungsform die großen Probleme“. Viele Eltern hätten bei ihren Befragungen Antworten vorgegeben. Das Gericht hat inzwischen ein Gutachten der Sachverständigen Krück verlesen, in dem davon die Rede ist, daß sich wohl nur „wenige Kinder“ der „Suggestivwirkung“ bohrender Elternfragen hätten entziehen können. Es könne nicht ausgeschlossen werden, daß Eltern und Kinder dem „Sog der Gruppeninfektion“ erlegen seien.

Wie schlüssig die Aussagen der Kinder tatsächlich sind, läßt sich für journalistische Prozeßbeobachter nur schwer nachvollziehen. Zum Schutz der Kinder findet ihre Vernehmung ebenso unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt wie die Befragung ihrer Eltern. Reden mögen die Eltern mit der Presse vor der Urteilsverkündung generell nicht. „Wir haben Angst, den Prozeß dadurch zu stören“, sagt eine Mutter. Welche Spuren die angeklagten Verbrechen bei den betroffenen Kindern und in den Familien hinterlassen haben, läßt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt deshalb nicht nachzeichnen. Man kann das Grauen und die Tragödien nur ahnen.

Dabei ist „dieses in jeglicher Hinsicht schreckliche Verfahren“, so Richter Klaus-Dieter Walden, nur eines von vielen in dem gesamten Komplex. Fünf weitere Anklagen gegen Erzieherinnen und einen Zivildienstleistenden hat die Staatsanwaltschaft inzwischen erhoben. Gegen rund 20 weitere Tatverdächtige wird ermittelt. Einige Kinder haben ausgesagt, es seien Filme gedreht und das Material an Taxifahrer weitergegeben worden. Gefunden haben die Ermittler bisher nichts. Manche Eltern machen dafür die ihrer Meinung nach zunächst zu laschen Ermittlungen der Polizei verantwortlich.

Massiv verstärkt worden sei die Ermittlungsarbeit erst, so die Kritik der Lokalpresse, nachdem sich die Eltern am 27. Februar 1992 mit einem Brief an Innenminister Schnoor gewandt und um verschärfte Polizeimaßnahmen gebeten hätten. „Wir gehen davon aus, daß unsere Kinder von einer organisierten Verbrechergruppe bedroht werden, die den Verkauf von Videos und die Kuppelei mit Kindern professionell betreibt“, schrieben die Coesfelder Eltern seinerzeit. Ihre Kinder würden weiter telefonisch bedroht und nach solchen Telefonaten zum Beispiel fragen: „Wer ißt unser Fleisch, wenn wir tot sind?“

Gehörte Rainer M. womöglich einer Pornogang an?. Diese Frage verneint der Angeklagte ebenso wie die des Richters nach der Mitgliedschaft „in einer spiritistischen Gemeinschaft, die ihr Heil darin sieht, Kinder zu mißbrauchen“.

Wie weit die zerstörerischen Wirkungen des gesamten Komplexes unterdessen reichen, deutete sich am vergangenen Freitag bei der Vernehmung der 25jährigen Erzieherin Ruth B. an. Zwei Jahre lang arbeitete sie im Coesfelder Kinderhaus. Einige Kinder beschuldigen sie, „den Männern die Kinder übergeben“ und „immer aufgepaßt zu haben“. Ruth B. verzichtet auf ihr Zeugnisverweigerungsrecht. Sie will reden. An den gegen sie selbst erhobenen Vorwürfen sei „nichts dran“. Sie erklärt sich die Beschuldigungen damit, daß die Kinder nicht mehr zwischen „Realität und Phantasie unterscheiden können“.

Vermischungen sind in Einzelfällen offensichtlich. So hat ein Junge bei den Beschreibungen der sadistischen Exzesse immer wieder eine Fallgrube in der Turnhalle des Kinderhauses erwähnt. Daraufhin wurde der Boden aufgerissen, doch die Fallgrube gab es wie erwartet nicht. Manche der kindlichen Sprachbilder lassen sich nur psychologisch deuten, der faktische Hintergrund bleibt im Einzelfall nebulös.

Ob es im Falle von Ruth B. überhaupt zur Anklageerhebung kommt, steht dahin. Für viele steht ihre Schuld indes schon fest. Mit Dutzenden von anonymen Anrufen wird die Beschuldigte bis in die Nacht hinein belästigt. Die leichenblasse zierliche Frau hat in einem kirchlichen Kindergarten einen neuen Job gefunden. Inzwischen wird der zuständige Pfarrer bedrängt, sie zu entlassen. Für entsprechenden Druck sorgen einige Eltern vom Coesfelder Kinderhaus.

Ruth B. nennt im Gericht Namen und Fakten. Ihr Mann hat auf die Beschuldigungen gegen seine Frau zunächst mit Appetit- und Schlaflosigkeit reagiert. Inzwischen, so die in dieser Phase ihrer Vernehmung mühsam und unter Tränen nach Worten ringende, gebrochen wirkende Erzieherin, „ist er in eine Psychose verfallen“.

Am heutigen Donnerstag, dem 13. Verhandlungstag, geht der Prozeß wieder unter Ausschluß der Öffentlichkeit weiter. Zusätzliche Termine sind schon bis in den März hinein festgelegt. Der umsichtig agierende Richter Klaus-Dieter Walden sorgt sich um die Zukunft: „Die Aussagen der Kinder haben immer weitere Kreise gezogen, wie bei einem Stein, den man ins Wasser wirft. Die Atmosphäre ist im höchsten Maße gespannt. Der nächste Schritt, so fürchtet der Richter, könnte sein, „daß alle Väter hier in Verdacht geraten“.

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