Russisch Roulette im Mittelmeer

Die Zeitbomben ticken: 30 Prozent der Weltöltransporte gehen durchs Mittelmeer, gesunkene Atom- U-Boote drohen vom Meeresgrund, Müllverklappung und Industrieabwässer...  ■ Von Agostino Spataro

Was heute vor den Shetlandinseln passiert, kann morgen das Mittelmeer treffen. Fast ein Viertel des Welt-Rohöl-Verkehrs läuft durch das „Mare nostrum“: ein Meer von höchst labilem ökologischem Gleichgewicht, vierzigmal kleiner als der Atlantik, und völlig von dessen Wasseraustausch über die Meerenge von Gibraltar abhängig. Das Mittelmeer ist eine Art Binnengewässer mit winzigem Zu- und Abfluß. Für eine vollständige Erneuerung des Wassers sind mehr als 80 Jahre notwendig. Ringsum: eine geradezu monströse Zufuhr von Abwässern und verunreinigten Flüssen sowie von Wärme über küstennahe Städte.

Die industrielle Produktion an den Küsten des Mittelmeers ist in den letzten vier Jahrzehnten gigantisch angewachsen – von damals drei Prozent Weltanteil auf mittlerweile vierzehn. Italien ist dabei besonders von der Ölindustrie betroffen: von der in Europa voriges Jahr raffinierten Gesamtmenge von 460,8 Millionen Tonnen wurden 135 Millionen hier „veredelt“.

Dazu kommt von faktisch allen Mittelmeeranrainern eine zunehmende und immer noch unkontrollierte Müllverklappung. Bei täglich 3- bis 5.000 Schiffsbewegungen alleine im westlichen Mittelmeer ist dies auch kaum zu überwachen. Auf mehr als 635 Millionen Tonnen schätzt die UNEP die jährlichen Schmutz- und Öleinflüsse ins Mittelmeer durch „normale“ Tätigkeiten wie Schiffswaschungen und versehentliche Austritte.

Ökologischen Zeitbomben sind nicht nur die Öltanker, sondern auch eine ganze Anzahl weniger beachteter Brenn- und Rohstofftransporte: über das Mittelmeer wird auch 31 Prozent des Welthandels an Phosphaten geschippert, 9,4 Prozent der Kohle und 5,5 Prozent Eisenminerale: gewaltige Mengen für ein derart winziges Meer. Potenziert wird die Gefahr noch durch die zumeist unerfahrenen, bunt zusammengewürfelten Besatzungen und die miserable Qualität der Boote: vier von fünf Schiffen mit hochgefährlicher Ladung gelten bei Fachleuten heute als „höchst riskant“. Allein von 1977 bis 1987 hat es 94 Ölunfälle und vier weitere Großausflüsse mit jeweils mehr als 10.000 Tonnen ins Meer gegangenen Erdöls gegeben.

Viele der havarierten Schiffe liegen noch heute auf dem Meeresgrund, so etwa die vor zwei Jahren vor Genua gesunkene und nur teilweise ausgelaufene „Haven“.

Eine weitere Gefahrenquelle höchster Alarmstufe stellen die vielen (die genaue Zahl ist bis heute geheim) untergegangenen Atom-U-Boote und abgestürzter Flugzeuge dar, die im Mittelmeer liegen. Und die Fische und Meerestiere nehmen zahlreiche der ins Meer geleiteten Schadstoffe auf und lagern sie im Fleisch ab – die Menschen essen diese dann oder bekommen sie, etwa in Kosmetika oder Medikamenten auf Tranbasis, vom Arzt verabreicht.

Die Umweltagentur der Vereinten Nationen, UNEP, hat bei einer Untersuchung über die Wasser- und Strandqualitäten so ziemlich alles festgestellt, was der Gesundheit abträglich und am Ende gar tödlich für Mensch und Tier sein kann. Tatsächlich sind die Flüsse wohl der schlimmste „Ernährer“ der Verschmutzung. 80 Prozent der desaströsen Lage ist durch das verursacht, was mit ihnen ins Mittelmeer geschwemmt wird: alleine die größten Zuflüsse spülen jährlich 4.800 Tonnen Blei, 2.800 t Chrom, 25.000 t Zink, 127 t Quecksilber, 90.000 t Pestizide, 60.000 t Waschpulver und 2.540 t radioaktive Materialien ins Meer.

Zu alledem nimmt auch die Bevölkerung an den Küsten ständig zu. Laut UNO-Schätzung werden die 1985 festgestellten 81,7 Millionen direkten Küstenanwohner bis zum Jahr 2000 auf 108,3 Millionen und im Jahr 2025 auf 154,4 Millionen zunehmen. Hinzu kommt der Massentourismus, der im Mittelmeerraum von 117 Millionen 1986 in nur vier Jahren auf 150 Millionen 1990 angewachsen ist. All diese Menschen brauchen Ernährung, Heizung, Produktionsstätten; und all das verlangt Zulieferungen, Entsorgungen, Wiederaufbereitungen, Luft- und Wasserreinigung, die ihrerseits wiederum neue Abfallmengen schaffen.

Pläne, wie dies alles auch nur ansatzweise zu schaffen ist, sind derzeit nicht in Sicht. Nicht einmal winzige Maßnahmen sind abgesichert; selbst die nach der Shetland- Katastrophe wieder einmal geforderte Schließung der besonders gefährdeten Schiffahrtsrouten – etwa des Bonifacio-Kanals zwischen Sardinien und Korsika oder die Lagune von Venedig – ist noch immer umstritten.

Der Autor ist Direktor des Centro studi mediterranei.