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Zivilisationsbruch oder -folge?

■ Der Holocaust, die Moderne und die Soziologie

Im Zuge der „runden“ Gedenktage der Verbrechen des nationalsozialistischen Regimes – 1993 jährt sich beispielsweise der Aufstand des Warschauer Ghettos zum 50. Male – und mit zunehmendem, zeitlichem Abstand zu den Verbrechen ergab sich auch in der Bundesrepublik Deutschland fast zwangsläufig eine Diskussion über die Historisierbarkeit des Holocausts. Zahllose Initiativen bereiten Gedenk- und Memorialcenter vor, machen sich stark für Erinnerungstafeln und forschen auf lokaler Ebene – sozusagen in der Mikrohistorie der nationalsozialistischen Verbrechen und ihrer Unterstützung durch die „braven“ deutschen Bürger. Auf der anderen Seite verblaßt die Erinnerung, bald wird von den Tätern und Opfern der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik niemand mehr am Leben sein.

In dieser Diskrepanz akzentuieren sich die Konflikte. Vor allem zwei Punkte sind dabei in der Debatte; sie betreffen, wiewohl von forschungsstrategischer Wirkung und Kontrollierbarkeit, doch gewissermaßen moralische Entscheidungen im Vorfeld. Erstens: Kann man Auschwitz historisieren? Das heißt, kann der Holocaust selbst ein Bestandteil der historischen Forschung werden so wie etwa der Börsenkrach von 1929? Zweitens: Kann man die Gründe der nationalsozialistischen Politik, der „Endlösung“, „verstehen“? Oder stellt der Holocaust nicht eher ein „schwarzes Loch des Verstehens“ (Dan Diner) dar?

Je nachdem, wie diese Fragen beantwortet werden, wird man auch auf die letztendlich für uns heute zentrale Frage antworten, ob der Holocaust ein Zivilisationsbruch war. Exakt diese Frage steht im Mittelpunkt einer nun auf deutsch erschienenen Studie des 1968, nach den antijüdischen und antiintellektuellen Säuberungen, nach England emigrierten polnischen Soziologen Zygmunt Baumann. Den Anstoß zu seinem Buch „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust“ gaben Fragen aus den Erfahrungen seiner Frau Janina, einer Überlebenden des Warschauer Ghettos (deren Erinnerungen auch auf deutsch vorliegen). Es geht aus von der Erkenntnis, daß es „ohne die moderne Zivilisation und ihre wichtigsten Errungenschaften (...) den Holocaust nie gegeben“ hätte. Daraus folgt für Baumann auch eine kritische Rückfrage an seine eigene Wissenschaft, die Soziologie: Nicht so sehr gehe es darum, wie die Soziologen den Holocaust erklären, sondern, welche Konsequenzen er für das Fach und seine Methoden hat.

Die Gesellschaft als Garten, dessen „Unkraut“ man jätet

Im Anschluß an Überlegungen des amerikanischen Soziologen Rubenstein kommt Baumann zu dem Schluß, innerhalb der Weberschen Begrifflichkeit – moderne Bürokratie, rationaler Geist und wissenschaftliche Mentalität – fände sich kein einziges Element, das die Möglichkeit der Nazi-Greuel ausschließe. Auch eine der wesentlichen Voraussetzungen für die Durchführung des Holocaust, nämlich die Ausschaltung des rein animalischen Mitleids mit der leidenden Kreatur, sieht Baumann gerade durch die moderne Organisation der Gesellschaft gewährleistet: indem sie nämlich die Nähe zum Anderen reduziere, entfernt sie ihn aus dem unmittelbaren Gesichtskreis und macht ihn zu einem reinen Gegenstand. „Adiaphorisierung der Gesellschaft“ oder „demoralisierende Organisation“ nennt Baumann dies.

Für die moderne Zivilisation, die die irreduzible Offenheit und Unentscheidbarkeit durch die Planung des Sozialen, die rationale Organisation und die Bürokratie abfangen will, hat Baumann eine treffende Metapher parat: „Gesellschaft als Garten“. Auch und gerade der Genozid verfolgt das Ziel einer besseren Gesellschaft, und im Verfolgen dieses Zieles muß eben das Unkraut ausgerissen werden. Bis in die Sprache der Nazis hinein läßt sich diese „gärtnerische“ Absicht verfolgen. Insoweit ginge auch die Vorstellung fehl, der Antisemitismus habe direkt nach Auschwitz geführt. Es sind nicht die dumpfe Wut und der ressentimentgeladene Volkszorn, die in den Holocaust münden, sondern die funktionierende, berechnende, planerische Tätigkeit der Verwaltung. Es ist offensichtlich, daß die Formen des Erinnerns an den Holocaust heute wesentlich davon abhängen, in welcher Beziehung man die nationalsozialistische Vernichtungspolitik zum Hauptstrom der westlichen politischen Tradition sieht. Baumanns Buch ist nach der Seite der Historie getragen von der Absicht, die „Einfriedung des Holocaust“ in jeweils partikularisiertem Gedenken der Opfer oder der Täter zu durchbrechen.

Gerade die traditionellen Muster der Erklärung als Einbruch des Irrationalen in den eigentlich normalen Entwicklungsgang der modernen westlichen Gesellschaft sind es jedoch, die es möglich machen, das Erinnern an den Holocaust auf den feierlichen Sockel von Festreden zu heben – und zugleich aus der Normalität des Alltags auszugrenzen. Auch die Idee des „Zivilisationsbruchs“, die darauf abhebt, daß in Auschwitz Gesellschaft verschwunden sei, steht in Gefahr, dogmatische Vorschriften für das Erkennen zu begründen. Die daraus folgenden Formen des Erinnerns tuen niemandem weh.

Auschwitz als Grundproblem moderner Gesellschaften

Wie sehr wir uns bereits an solcherlei kostenfreies Gedenken gewöhnt haben, zeigen beispielsweise die verstörten Reaktionen, wenn jemand die theoretischen Tabus durchbricht. Nicht zuletzt die heute allseits geschätzte Hannah Arendt mußte das anläßlich ihres Eichmannbuches erfahren. Dies ging soweit, daß ihr deutscher Verlag es damals für angebracht hielt, vor der deutschen Übersetzung bereits einen Sammelband mit – fast ausschließlich – kritischen Stellungnahmen zu veröffentlichen. Und bis heute hat sich daran nicht sehr viel geändert. Die Kontroversen um die „Historisierbarkeit“ und die „Rationalität“ des Holocaust, wie sie heute im Rahmen der zahllosen Gedenkstätteninitiativen wieder geführt werden, belegen das.

Aber Baumanns Buch bleibt nicht dabei stehen. Es ging ihm, wie gesagt, darum, Konsequenzen für sein Fach zu umreißen. Zentraler Ansatzpunkt für ihn ist dabei die Frage der Moral. Baumann ist strikter Gegner der funktionalistischen Ansätze zur Erklärung von Moral, wie er sie von Malinowski über Durkheim bis hinein in die heutige Soziologie vorherrschen sieht.

Baumann versucht den Anschluß an den französischen Moralphilosophen und Metaphysiker Emmanuel Levinas, für den das Sein mit Anderen Grundtatsache der menschlichen Existenz vor jeder konkreten gesellschaftlichen Formation ist. Und das bedeutet vor allem: Verantwortung für den Anderen, die keinem Zweck dient, denn der Andere fordert und verspricht nicht. Ob Baumann meint, man könne die Ethik von Levinas tatsächlich soziologisch „operationalisieren“, ist nicht so recht ersichtlich. Jedoch bleibt bestehen, daß in concreto die Übernahme von Levinas' ethischem Grundmuster Baumann in zwei Punkten auch systematisch weiterbringt. Einmal hilft es ihm bei der Erklärung, wie das „animalische Mitleid“, von dem oben die Rede war, überwunden werden konnte (kann). Im Grunde ist das, was als „bürokratischer Massenmord“ (Hannah Arendt) beschrieben wurde, keine spezielle Erfindung der Nazis, sondern nur der Extrempunkt einer funktionalen gesellschaftlichen Organisation. Durch die Aufhebung der sozialen Nähe des Anderen gelingt es, ethischen Maximen den Boden zu entziehen und eigentlich antagonistische Zielsetzungen funktional zu homogenisieren. Baumann projiziert gewissermaßen mit Levinas das nazistische Verwaltungshandeln zurück auf die Webersche Bürokratietheorie. Und das gibt ihm – zweitens – ein Maß dafür, das zu erfaßen, was er „Adiaphorisierung“ der Gesellschaft nennt, also die Enthebung des sozialen Handelns aus den – moralisch verstandenen – Kategorien von Gut und Böse: für Baumann ein Grundproblem aller modernen Gesellschaften. Aus sich heraus liefern sie keine Gegenkräfte zu einem möglichen neuen Auschwitz. Einzig in einer Ethik, die in gewisser Hinsicht immer vorgesellschaftlich ist, liegen die Quellen möglicher Widerständigkeit.

Baumanns „skeptischer Pragmatismus“ und Primo Levi

Der italienische Schriftsteller Primo Levi hat aus seiner eigenen Geschichte als Überlebender in Auschwitz diese Konsequenz gezogen: „Wir sollten uns davor hüten, unser Urteilsvermögen und unseren Willen anderen zu überlassen, denn es ist schwer, wahre von falschen Propheten zu unterscheiden, es ist gut, allen Propheten zu mißtrauen. Es ist besser, auf die Wahrheiten, die offenbart werden, zu verzichten (...), und sich mit den bescheideneren und weniger begeisternden Wahrheiten zufrieden zu geben, die mühsam durch Studium, Diskussionen und Argumente erarbeitet wurden, die man jedoch verifizieren und beweisen kann.“

Eine Einstellung, die Baumann mit ihm und nahezu allen teilt, die versucht haben, sich ohne ideologische Scheuklappen mit dem Holocaust zu befassen. Logische Folge dieses „skeptischen Pragmatismus“ ist seine hohe Bewertung der Moral als interne Kategorie der Soziologie. Das schließt ein, daß Schuld und Verantwortung immer individuell sind. Und es führt ihn zu einer radikalen Absage an jegliche Utopie, sei es in Gestalt des „Großen Gärtners“ oder in jedweder anderen Form, die das „Heil“ in der Gesellschaft sucht. Uli Hausmann

Zygmunt Baumann „Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust“, Europäische Verlagsanstalt, Hamburg 1992, 252 S., 58 DM. Übersetzung aus dem Englischen: Uwe Ahrens

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