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Differenz und Erfahrungsfähigkeit

■ Rosa Luxemburg und die „Schule des öffentlichen Lebens“

Parteischreiberlinge erfanden den Luxemburgismus, der sich auf einen angeblichen Subjektivismus Rosa Luxemburgs bezog. Jede neue Linke entdeckte die engagierte Demokratin, um sie als alte Linke ebenso schnell wieder zu vergessen. Nach der Herausgabe der Briefe entstand das Bild der sentimentalen Vogel- und Blumenfreundin, für die neue Frauenbewegung gab es nur noch den Blick auf die Frau Rosa Luxemburg; seit 1989 hat der Mensch Rosa Luxemburg Konjunktur.

Doch die politische Denkerin und Aktivistin stellte ihre Entscheidung für die Politik unter ein ironisches Paradox: Sie sei eigentlich zum Gänsehüten auf die Welt gekommen, hätte ebensogut und mit Leidenschaft Zoologie studieren können, wenn nicht die Zeit ihren Sinn für Gerechtigkeit verletzt hätte. Die Fähigkeit, Wirklichkeit in ihren vielfältigen Aspekten wahrzunehmen, ist die Quelle ihres Freiheitswillens und Urteilsvermögens. Ihre frühen Erfahrungen, als Jüdin in Polen aufgewachsen zu sein, ermöglichen ihr die Distanz zu einem Grundmuster des Ausschlusses von Differenz: der nationalen Identität. Rosa Luxemburg versteht sich von Anbeginn als Europäerin, als Weltbürgerin, und wenn auch ihr Internationalismus doktrinäre Züge aufweist, bleibt ihre kritische Aufmerksamkeit gegenüber falschen Ein- und Unterordnungen davon unberührt.

Erfahrungsfähigkeit ist der Mittelpunkt, um den herum Rosa Luxemburg ihre politischen Analysen aufbaut und von dem aus sie ihre politischen Entscheidungen fällt. Die Vielfalt der Situationen entzieht sich dem Kalkül und deshalb auch der Kontrolle. Nur in der Teilnahme an geschichtlichen Bewegungen, in der „Schule des öffentlichen Lebens“, können Fragen der Organisation und der politischen Institutionen geklärt werden. Die Räte waren eine Errungenschaft der Revolution. Aber die Parole der Bolschewiki „Alle Macht den Sowjets“ konnte sie dennoch nicht unterstützen. Nicht um Zentralisierung, sondern um Teilung der Macht ging es ihr, um möglichst viele Räume, in denen politisch gehandelt und geurteilt werden kann. Deshalb „freie, ungehemmte Presse“, „ungehindertes Vereins- und Versammlungsleben“, „Freiheit des anders Denkenden“, Erhaltung des Parlaments. Hier artikuliert sich ein Nachdenken, das auf dem Weg ist, die Reduktion der Politik auf die soziale Verfassung der Gesellschaft in Frage zu stellen. Deshalb wehrt sich Rosa Luxemburg entschieden, an die Stelle der Demokratie den geschichtlichen Zwang oder das bessere Wissen einer politischen Elite zu setzen, die aus eigener Machtvollkommenheit heraus die Menschenrechte im Namen einer fernen Zukunft aufzuheben bereit war.

Es ist keine Frage, daß sich für Rosa Luxemburg Demokratie und soziale Gerechtigkeit wechselseitig bedingen, in der Zukunft vielleicht sogar dasselbe sein könnten. Das heißt aber auch, daß sie alle Hoffnungen auf das ganz Andere der sozialistischen Wirtschaft setzte. Dieser Mangel an Differenzierung läßt Rosa Luxemburg immer dann, wenn sie über das sozialistische Endziel spricht, eine prinzipielle Argumentation wählen. Ja oder Nein zum sozialistischen Endziel: Reformen können so nicht mehr in ihrer Besonderheit gewertet werden.

Der Krieg, das Versagen des liberalen Bürgertums und der Arbeiterbewegung versetzten sie in die verzweifeltste Situation ihres Lebens und in eine tiefe Krise ihres Denkens. Neben ihren mutigen Stellungnahmen gegen den Krieg kündigt sich eine Sprache an, in der ihre demokratische Stimme abzubrechen droht. Um als Handelnde während des Spartakusaufstandes, den sie nicht gewollt hatte, gegenwärtig zu sein, begibt sie sich auf das Terrain des sonst so verachteten marxistischen Schubladenwissens. Jetzt ist nur noch von Kampf die Rede, von Zerstörung der alten Macht und Errichtung der proletarischen Klassenorgane. In der Revolution – als ihr die Geschichte davonläuft – senkt sich der ganze Ballast, den sie Schicht um Schicht abzutragen versucht hatte, wie ein Alp auf ihr Denken.

Das Politische steht uns nicht als Welt gegenüber, die wir distanziert betrachten können, wir befinden uns mitten in den Beziehungen. Rosa Luxemburgs kritisches Manifest über die russische Revolution ist erst nach ihrer Ermordung veröffentlicht worden. Es vermittelt unverlierbar die Erfahrung, daß politisches Handeln tatsächlich etwas anderes ist als das Vollziehen von Sachzwängen oder sozialen Interessen. Politische Authentizität besteht in Erfahrungsfähigkeit und Mut zur eigenen Verantwortung. Ein Mut, der es erfordert, im eigenen Namen und nicht im Namen der Partei oder des historischen Fortschritts zu sprechen. Ingeborg Nordmann

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