■ Zur Amtseinführung des neuen US-Präsidenten
: Im Befreiungstaumel

Die Nation befindet sich in einem Taumel von Erwartung und Hoffnung. Washington flippt aus. Die Inauguration Bill Clintons verspricht die größte Festivität dieses Jahrhunderts in Washington zu werden, man spricht vom Woodstock der Politik. Zeitenwende in der amerikanischen Politik oder nur eine Variante des Show-Biz, Clinton ein neuer Elvis oder ein neuer Kennedy?

Der König ist tot, es lebe der König! Amerika hat manche Züge einer Monarchie: Die Inaugurationen sind wie der Jubel über die Thronbesteigung des Kronprinzen: Der junge König, der strahlende Held wird alles anders machen, er ist die personifizierte Hoffnung des Volkes. Doch Amerikas Rituale wurzeln in demokratischen Traditionen. Jede Inauguration ist zugleich auch eine Revolutionsfeier und ein Bastille-Tag. Zum 43. Mal führt Amerika das in dieser Welt nicht eben selbstverständliche Schauspiel eines friedlichen Machtwechsels auf. Mag sich das Land auch sonst in ideologischen Querelen zerfleischen oder in politischem Desinteresse versinken, am Tag des Amtsantritts feiert Amerika im neuen Präsidenten seine eigene Identität als ständig sich erneuernder demokratischer Staat und zelebriert zugleich die Vitalität der Dynastie des Volkes.

Doch das erklärt noch nicht den besonderen Überschwang, mit dem die Nation in diesem Jahr Anteil am Regierungswechsel nimmt, erklärt noch nicht die Hoffnungstrunkenheit, die auch Skeptiker und Zyniker ergriffen hat und von der auch angesteckt ist, wem bisher Republikaner und Demokraten Jacke wie Hose waren. Man hat auf den politischen Generationswechsel verwiesen, den diese Inauguration einleitet. In der Tat, Clinton und Gore gelang, was Lafontaine und Engholm bisher versagt blieb.

In Europa regieren noch die alten Herren – oder jene, die nur eben zufällig beziehungsweise aufgrund besonderer „Gnade“ später geboren sind. In Clinton und Gore aber kommt mit der Vietnam- und Rebellen-Generation jene Generation an die Macht, die die Logik der Kriegs- und Nachkriegsweltordnung in Frage stellte. Daß dieser Machtwechsel auf das Ende des Kalten Krieges folgt, hat dabei doppelte Bedeutung: Einerseits findet in ihm die Kulturrevolution der 60er Jahre ihre (wenn auch beschränkte) politische Erfüllung, andererseits ist er das westliche Echo auf die Revolution im Osten.

Clinton und Gore stehen dabei nicht für den amerikanischen Triumph im Kalten Krieg – den versuchte Bush vergeblich auszukosten –, sondern eher für das vage Gefühl, daß Amerika einen Pyrrhussieg errang. Der Niedergang des Sozialismus im Osten gab den USA den Blick in den Spiegel frei, und darin erkannte sich Amerika als heruntergekommen und verarmt. Die Lage ist derart schlecht, daß eine drastische Wende in der Politik notwendig ist. Das ahnte Amerika und gab Clinton und Gore dazu das Mandat, auf diese Wende hofft das Land – und feiert sie im voraus.

Dies ist die doppelte Quadratur des Kreises, die Clinton und Gore vollbringen müssen. Die eine ist technisch-finanzieller, die andere moralischer und ideeller Art, die eine berührt die materiellen Ressourcen, die andere die Seele des Landes. Amerika ist pleite, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Das Haushaltsdefizit wird sich in diesem Jahr auf an die 300 Milliarden Dollar belaufen, Amerikas Öffentlichkeit trägt dabei eine aufgelaufenen Gesamtschuldenlast von vier Billionen Dollar. Dabei schreit das Land nach Investitionen. Clinton muß nach den Feierlichkeiten das Wunder vollbringen, sowohl Geld zu sparen als auch auszugeben. Er hat versprochen, das Haushaltsdefizit zu halbieren und gleichzeitig Milliarden in die verrottete Infrastruktur, das völlig verluderte Erziehungs- und das marode Gesundheitswesen zu investieren.

Das ist aber nur die materielle Seite des Problems. Ihr steht eine gleichsam ideelle gegenüber. Amerika liebt es, sich als einzigartig unter den Nationen dieser Erde zu sehen, als die sprichwörtliche Nummer1. Wer aber durchs Land fährt, wundert sich, worauf sich dieser Stolz eigentlich gründet. Das Land wirkt auf weite Strecken wie verwüstet. Man hat oft gesagt, Amerika sei teilweise ein Land der Dritten Welt, das ist es auch. Dritte Welt jedoch klingt zu farbig und exotisch, eher trifft der ernüchternde Rekurs auf die Zweite Welt. Auf weiten Strecken gleicht Amerika auch seinem ehemaligen Gegenüber, wirkt so kaputt wie ein Land des Sozialismus.

Fahrten durch amerikanische Städte rufen die Ruinen des Realsozialismus in Erinnerung: Leipzig ist besser erhalten als Toledo, Ohio, Schwerin besser als Cleveland, Bitterfeld sieht intakter aus als Amerikas alte Stahlstandorte bei Pittsburgh. Über die Straßen Amerikas fährt man vielerorts wie über Kraterlandschaften und passiert Brücken, die aussehen, als stünden sie in Beirut.

Jahrelang hat Amerika von der Substanz und von seiner eigenen Mythologie gelebt, hat alles öffentliche Eigentum verkommen lassen, hat den Raubbau und Ausverkauf seiner natürlichen Ressourcen betrieben und dabei die Umwelt geschändet.

Auf diesem Hintergrund legen die geradezu kathartischen Feierlichkeiten in Washington noch eine andere Assoziation nahe: die an die Riesenpartys am Brandenburger Tor nach Öffnung der Mauer. Da war Berlin so aus dem Häuschen wie es heute Washington ist, da waren die Deutschen das „glücklichste Volk auf Erden“ und gaben sich ein Stelldichein auf ihrer nationalen Prachtstraße, wie heute Amerika „America's Reunion on the Mall“ feiert (so lautet das offizielle Motto der Inauguration). Ja, in gewisser Weise herrscht heute in Washington eine ähnliche Euphorie wie damals in Berlin. Mit dem Ende der Reagan-Ära weicht ein Alp vom Lande. Doch was kommt danach?

Das aber ist die ideologische Quadratur des Kreises, die Clinton und Gore vollbringen müssen: den wahren Zustand Amerikas zum Thema zu machen, das Unsagbare auzusprechen und das Undenkbare zur Grundlage ihrer Pläne zu machen: Amerika ist pleite, kaputt und muß wieder aufgebaut werden. Clinton wird anders als im Wahlkampf mit seinem Volk „Tacheles“ reden müssen, wie es nur Ross Perot tat. Clinton wird Begriffe wie „Opfer“ und „Einschränkungen“ gebrauchen müssen, wie sie nur Perot im Wahlkampf gebrauchte, er wird sogar die Steuern erhöhen müssen, was im Wahlkampf nur Perot ankündigte, und das alles, ohne der Nation dabei den Glauben an ihre Einzigartigkeit und ihre Mission zu nehmen und ohne sie in den Zynismus und die Apathie der Bush- Jahre zurückzustoßen.

Vielleicht deshalb blickt die Welt von West- über Osteuropa bis Afrika mit all ihren Problembergen und Transformationskrisen gerade jetzt so sehnsüchtig auf Amerika. Das kann sich selbst nur an den eigenen Haaren aus dem Sumpf ziehen. Dazu braucht es die Begeisterung, mit der es den Machtwechsel feiert. Gelingen aber kann diese Anstrengung nur, wenn die Nation sich zugleich nüchtern ihrer Verwahrlosung stellt.

Reed Stillwater