: Statt in die Luft auf die Schiene gehen
Serie: Der Verkehr und die Zerstörung der Stadt (10. Folge): Bahnkreuz Berlin braucht die schnelle Schienenführung ins Zentrum/ Flughafen Tempelhof idealer Standort für modernen Zentralbahnhof ■ Vn Hans-Joachim Rieseberg
Seit dem Zweiten Weltkrieg gibt es in Berlin keine Anbindung an den überregionalen Eisenbahnfernverkehr mehr, die man als solche bezeichnen kann. Ost-Berlin hatte noch eine gute Verknüpfung mit dem Regionalverkehr innerhalb der DDR, während West- Berlin lediglich über eine völlig verkümmerte und mit Recht so bezeichnete Interzonenzugverbindung verfügte. Diese Hauptverbindung wurde über den Bahnhof Zoo abgewickelt. Trotz der mangelnden Förderung der Eisenbahn sowohl in Westdeutschland als auch in Teilen Europas hat sich eine ganze Menge im Entwicklungsbereich der Eisenbahn getan. Vor allem Frankreich hat sehr schnell begriffen, daß allein mit dem Flugzeug ein Fernverkehr nicht aufrechtzuerhalten ist, und die europäischen Schnellzugmodelle noch weit vor der Bundesbahn entwickelt.
Neue Qualität für die Bahn
Inzwischen hat die Bundesbahn teilweise nachgezogen, trotz alledem stehen wir vor dem Startschuß für eine europäische Schnellbahnverbindung im nächsten Jahrtausend, die die großen Metropolen und Kreuzungspunkte Europas miteinander verbinden wird. Damit erhält die Eisenbahn im Vergleich zu dem Zustand vor dem Zweiten Weltkrieg eine neue Qualität. Faktum wird sein, daß die Ost-West- und die Nord-Süd-Verbindungen als Schnellbahnsysteme Teile Ost- und Westeuropas oder Südeuropa und Skandinavien miteinander verbinden werden.
Sie werden sich mit Sicherheit in Berlin kreuzen, und für diese Zwecke braucht man in Berlin einen großen Bahnhof, der mehrere Funktionen erfüllt: die Verknüpfung dieser großen Durchgangsstrecken mit den Regionalbahnen aus Deutschland und Polen und die Verknüpfung dieser Systeme wiederum mit den Lokalbahnen und der S-Bahn. Weder der Bahnhof Zoo noch der Bahnhof Friedrichstraße oder der Hauptbahnhof können von der Größenordnung her diese Funktion erfüllen.
Vor der Wiedervereinigung waren die Verhandlungen über den Anschluß Berlins an das europäische Schnellbahnnetz im Sinne einer Sackgassenverbindung mit Westdeutschland perfekt. Diese Planungen wurden nach der Wiedervereinigung nicht grundsätzlich revidiert, sondern mühsam angepaßt. In Berlin selbst geht die ganze Planung noch auf das alte Ringbahnsystem zurück, bei dem die Fernbahnanschlüsse mit der Ringbahn verknüpft waren.
Schnelle Fahrt ins Zentrum nötig
Nach dem Krieg wurden die großen Bahnhöfe entweder abgerissen (Anhalter Bahnhof) oder ihrer Funktion teilweise beraubt wie der heute sogenannte Hauptbahnhof in Ostberlin. Darüber hinaus kann man eine Schnellbahn, die 200 bis 250 km schnell ist, nicht kleinteilig über die alten, gewundenen Bahnstrecken in das Stadtsystem Berlins einfädeln. Hierzu bedarf es großer, schneller, durchgängiger Trassen, die schnell an einen zentralen Punkt herangeführt und schnell wieder weggeführt werden. Alles andere nutzt die Chancen, die die Bahn als Ersatzsystem für das Flugzeug und für das Auto bietet, nicht. Man kann wirklich sagen, es gibt in Berlin keine vernünftige, zukunftsorientierte Bahnplanung.
Die Bahn hatte immer den Vorteil, daß sie mitten in die City hineinfuhr und punktuell die Reisenden – die Ankommenden und Abfahrenden – verteilte bzw. aufnahm. Dieser Vorteil könnte und müßte genutzt werden. Er setzt aber mehreres voraus, nämlich die technischen Gegebenheiten einer schnellen Einführung in das Stadtgebiet und die Organisation des Bahnhofs als Dienstleistung. Bahnhöfe dieser Art, wie sie hier gebraucht werden, waren schon immer repräsentativ. Das zeigen der Anhalter Bahnhof, aber auch viele westdeutsche und ostdeutsche Beispiele: Leipzig, Frankfurt oder Köln. Berlin fehlt durch den Wegfall des Anhalter Bahnhofs eine solche großartige Inszenierung, die für die Bedeutung des Eisenbahnverkehrs lebenswichtig ist. Wenn es den Anhalter Bahnhof noch gäbe, würde man nicht umhinkommen, an dieser Stelle die Neuauflage zu wagen. Er ist für immer verschwunden, und das bietet gleichzeitig eine Chance, nämlich eine bessere Verkehrsführung zu machen. Dabei müßte bei einer guten Planung bedacht werden, daß ein zentraler Punkt von An- und Abreise auch ein zentraler Punkt von Dienstleistungen, Ausstellungen, Messen, Kongressen, Tourismus und Kultur ist.
Lehrter Bahnhof keine Lösung
Das heißt: Für einen künftigen Fernbahnanschluß braucht man eine Menge Platz mitten in der City. Ferner müßte an diesem Platz möglichst ein Teil der Verkehrsinfrastruktur bereits vorhanden sein, die gebraucht wird, um ein solches System mit den anderen Verkehrssystemen zu vernetzen, also S-Bahnen, U-Bahnen, Stadtbahnen, Stadtautobahnen – so notwendig – und ein zentraler Busbahnhof. Eine solche Anlage hat einen erheblichen Platzbedarf und sollte entweder an vorhandene und in vorhandene Systeme integriert werden, oder gegebenenfalls sollten vorhandene Infrastruktureinrichtungen aufgegeben und neugebaut werden. Darüber hinaus müßte ein solcher Bahnhof ein äußerst repräsentatives modernes Gebäude sein. Die jetzige Planung, den Bahnhof an der Lehrter Straße zwischen historisch Bedeutendes, aber nicht Verschiebbares einzuklemmen und einzuwängen, löst das Problem mitnichten. Die Zuführung ist gewunden und eng, sie führt über die alte Trasse über die Museumsinsel, also eine vorsintflutliche Verkehrsführung für eine Fernbahn, die darüber hinaus mit Sicherheit an dieser Stelle so oder so zu schweren Beeinträchtigungen führen wird. Es hätte sich also angeboten, einmal einen städtebaulichen Wettbewerb über diese Art der Stadtfunktionen auszuschreiben, und es hätte sich angeboten, eine gute stadt- und regionalplanerische Analyse anzugehen.
Vom Flughafen zum Bahnhof
Danach können eigentlich theoretisch nur noch zwei Standorte für ein solches modernes Dienstleistungszentrum in Frage kommen: ein Standort im Osten, irgendwo in Lichtenberg, der näher zu untersuchen wäre, oder ein Standort, dem ich im Grunde den Vorzug geben würde, nämlich den ehemaligen Flughafen Tempelhof. Hier wären die infrastrukturellen Maßnahmen noch wesentlich besser gegeben, und hier könnte wahrscheinlich aufgrund der Fläche, die zur Verfügung steht, eine wirklich moderne, repräsentative, schöne Bahnhofsanlage mit einem Traumgebäude gebaut werden, das dem 20. Jahrhundert Ausdruck verleihen und Maßstäbe eines neuen zukunftsorientierten Bauens setzen könnte. Hier könnte man auch in einer alten historischen Stadt Neues schaffen, hier gäbe es nicht die ganzen Zwänge, die am Potsdamer Platz städtebauliche Beeinträchtigungen bewirken. Weder der Potsdamer Platz noch der Leipziger Platz, noch das Zentrum um den Reichstag werden entscheidende Veränderungen der alten Berliner Stadtstruktur zulassen. Die Konzentration von Stadtfunktionen – Verwaltungszentrum für die Bundesregierung, Kulturzentrum zwischen Museumsinsel und Philharmomie und Dienstleistungszentrum für Daimler-Benz und Sony – mitten im Herzen Berlins wird aber nicht nur riesige Verkehrsmengen erzeugen, sondern zukunftsweisende Lösungen nicht erlauben.
Dagegen stünde mit dem Gelände des Flughafens Tempelhof ein Areal für ein beispielhaftes und funktionstüchtiges Verkehrs- und Dienstleistungszentrum zur Verfügung, und es würde eine gleichmäßigere Verteilung der Stadtfunktionen erreicht. Weltbedeutende Architekten hätten eine wirkliche Aufgabe, und der Flughafen hätte eine Kontinuität in eine neue ökologische Zukunft.
Keiner will dem Streit ausweichen
Es ist interessant, daß all jene, die nach großzügiger und schneller Planung schreien, auf eine solche Idee partout nicht kommen wollen. Man hat manchmal den Eindruck, daß in Berlin keiner, aber auch wirklich keiner den Streitereien aus dem Wege gehen will. Alle wollen sich dort treffen, wo es die höchsten Konfliktpotentiale gibt: am Potsdamer Platz, im Tiergarten, im Spreebogen, an der Friedrichstraße oder am Alexanderplatz. Hier stoßen die streitenden Gruppen alle aufeinander, hier wird Streit um des Streites willen geführt, und es bleiben Lösungen übrig, die spätestens nach 20 Jahren wieder abgerissen werden, weil die nächste Generation erkennt, daß diese kleinkarierten Lösungen keine waren.
Einig ist man sich in Berlin nur im Abriß von dem, was die Generationen vor ihnen gebaut haben, ob es nun um den Palast der Republik, viele Nachkriegsbauten und die Zeugnisse des realen Sozialismus geht oder um die Beseitigung der Bauten der Wilhelminischen Zeit des 19. Jahrhunderts, die nach dem Zweiten Weltkrieg zwar beschädigt, aber reparierbar waren. Hintergrund dieser Bewegung „Berlin im Abriß, alle machen mit“ ist eigentlich die nicht vorhandene Stadtplanung.
Von der Planung her denken
Diese Stadtplanung muß nun einmal heute – ob man will oder nicht – von der Verkehrsplanung her gedacht werden. So müßte es eigentlich jedem zu denken geben, daß die größte Baustelle Europas mit zukunftsweisenden Neubauvorhaben, die ein europäisches Land nach dem Zweiten Weltkrieg angegangen ist, ohne einen gültigen Flächennutzungsplan betrieben wird. Der deutsche Staat hat in der Nachkriegszeit ein für Europa recht mustergültiges Planungssystem mit Flächennutzungsplänen und Bebauungsplänen entwickelt, in die die Notwendigkeiten des Planens, Bauens, Versorgens, der Infrastruktur, der Ansiedlungspolitik integriert werden sollten. Und dieses Planungsinstrumentarium wird ausgerechnet an der anspruchsvollsten Aufgabe, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg gestellt hat, nicht angewendet. Es ist im Grunde nicht zu glauben, aber es ist so, und schon in einem Jahrzehnt wird dies niemand mehr verstehen.
Diplom-Ingenieur Hans-Joachim Rieseberg beschäftigt sich mit Architektur, Stadt- und Verkehrsplanung und ist Autor mehrerer Bücher über unsere zerstörerische Lebensweise; kürzlich erschien „Arbeit bis zum Untergang“ im Raben- Verlag.
Die nächste Folge erscheint am Montag kommender Woche.
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