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Ein Politiker ohne Strategie

Das Problem, das Kraotien mit Franjo Tudjman hat, besteht nicht darin, daß er ein „unsympathischer“ Präsident ist. Viel entscheidender ist seine Unfähigkeit, das Präsidentenamt als „Job“ wahrzunehmen.  ■ Von Dunja Melcic

Würde die westliche Öffentlichkeit Kroaten und Kroatinnen einfach als ein gleichberechtigtes Volk in der Familie der europäischen Völker und ihren Staat als einen kleinen neuen Staat in der europäischen Staatengemeinschaft betrachten, dann hätte sie die dortige Situation grundlegend anders rezipiert und interpretiert. Doch es verhielt sich genau umgekehrt: Die gesellschaftlichen und politischen Probleme bestimmten die Sichtweise so sehr, daß eine unbeeinträchtigte Wahrnehmung nicht mehr möglich war.

Diese Konstellation wirkte sich auch von Anfang an bei der journalistischen Behandlung der politischen Hauptperson Kroatiens, bei Präsident Franjo Tudman aus. So war es zum Beispiel eine Zeitlang sehr beliebt, Tudjman als „unsympathisch“ zu qualifizieren. Als wäre dies nicht eine Adjektiv, das sich auf fast alle Politiker anwenden ließe. Warum muß eigentlich ausgerechnet der kroatische Präsident sympathisch sein? Und: Würde sich dadurch politisch irgend etwas ändern.

So wenig wie die gesamte Lage in Kroatien politisch hinterfragt wird, wird auch bei der Analyse des politischen Handelns des kroatischen Präsidenten kaum von politischen Fragen ausgegangen. Besonders seine Fähigkeiten, die Geschicke des Landes verantwortungsbewußt in den schwierigsten Zeiten zu leiten, werden nicht thematisiert.

Statt dessen werden ständig irgendwelche – durch den Belgrader Nachrichtendienst geschickt propagandistisch präpariert – verbalen Ausrutscher kolportiert. Solche jedoch unterlaufen auch professionell geübten Politikern und geraten normalerweise nach einiger Zeit in Vergessenheit.

Nein, Herr Tudjman ist kein Antisemit und kein Serbenhasser. Ist doch seine Tochter mit einem Serben verheiratet und sein Enkelkind in Belgrad groß geworden, weshalb er auch seinen serbischen Opa liebt. Das, worüber hier im Zusammenhang mit Franjo Tudjman mit Vorliebe geschrieben wird, das sind nicht die echten Probleme, die Kroatien mit seiner Person hat.

Die allerdings sind fundamental. Tudjman ist einfach eine falsche Person in einem der fatalsten Zeitabschnitte in der Geschichte des geplagten Landes. Dadurch werden auch seine – an sich durchschnittlichen – menschlichen Fehler und Schwächen überdimensioniert.

Die Zeiten, die für Kroatien mit der Unabhängigkeitserklärung ausgebrochen sind, verlangen nach einem genialen Politiker – für den Krieg nach einem Churchill und für den Frieden nach einem Adenauer. Politiker von solchem Format sind auch im Westen nicht zu finden, geschweige denn in Kroatien, das aufgrund seiner Geschichte nicht einmal über eine politische Elite verfügt, die den Aufgaben gewachsen wäre.

Man könnte sagen, daß die Bevölkerung Kroatiens sich verschätzt und übernommen hat, als sie mit über 90 Prozent für die Unabhängigkeit gestimmt hat. Dies kann man jedoch als verzeihlich ansehen – denn sie hatten ja auch kaum eine Wahl: die Kompromißlosigkeit Belgrads war absolut, das Tempo des „Rette sich, wer kann“ haben die Slowenen bestimmt. Auf jeden Fall ist Kroatiens Unabhänigkeit nicht die Folge der Politik Tudjmans – auch wenn dieser dies gern und immer wieder behauptet, auch wenn die westlichen Medien unterstellen, er hätte die Bevölkerung auf die falsche – nationalistische – Fährte gelockt.

Die staatliche Unabhängigkeit war ein Auftrag der – nicht nur kroatischen – Bevölkerung Kroatiens und diesen Auftrag hat Franjo Tudjman nur mangelhaft erfüllt. Immerhin aber so erfüllt, daß große Teile der Bevölkerung darin – nicht ganz und gar zu Unrecht – sein großes Verdienst sehen.

Dennoch, daß eine Bevölkerung sich verschätzt und meint, es seien „weiche Zeiten“ nach dem Zerfall des kommunistischen Ostblocks angebrochen, ist verzeihlich. Wenn ein Staatsoberhaupt dies tut, ist es das nicht mehr. Tudjman hätte wissen müssen – und auch wissen können –, daß die Erlangung der staatlichen Unabhängigkeit Krieg bedeutet. Allzu deutlich war dies in Belgrad – wo die Antizipationen die politische Strategie bestimmen – gesagt worden.

Die Situation war so, als hätte man die Stücke zweier Puzzlespiele miteinander vermengt und eines nur dann zusammenfügen können, wenn es gelungen wäre, die zum jeweiligen Spiel zugehörigen auseinanderzuhalten, obwohl einige Teile für beide unentbehrlich gewesen wären. Während das serbische Puzzlespiel wie am Schnürchen aufgeht – man konnte so richtig voraussehen, welches Stück sich zu welchem gesellt – stehen die Kroaten samt ihrer Führung noch immer vor einem Haufen zusammenhangloser Teile, die mal in das eine, dann wiederum in das andere Spiel passen könnten. Man weiß nicht einmal, wie das Spielbrett heißen soll – Krieg oder Frieden.

Hier deckt sich allerdings die Ausgangslage Kroatiens mit der des Westens. Die Realität des Krieges wird – wenngleich auf unterschiedliche Weise – verdrängt. Tudjman verleugnet sie, weiß aber, wer Aggressor ist. Der Westen verleugnet sie, indem er bestreitet, den Aggressor zu kennen. So gibt es in Kroatien neben dem tatsächlichen auch einen rhetorischen Krieg, eine immer zu verwendende Erklärung für die wirtschaftliche Misere, für mangelnde Rechtsstaatlichkeit und Demokratieschwäche.

Der reale Krieg, bei dem Menschen starben und immer noch sterben, politisch-strategisch hat es ihn nie gegeben. Von Tudjman war keine klare strategisch-politische Antwort auf die durch die serbische Aggression entstandene Bedrohung zu vernehmen. Man braucht sich ja nur in Erinnerung zu rufen, wie normalerweise auf den Beginn eines Krieges reagiert wird, um das Fehlen einer adäquaten Reaktion in Kroatien festzustellen. Die Verteidigung wurde ohne erkennbare Strategie ausgeübt – der Mentalität der Bevölkerung entsprechend, daß man sein Dorf, aber nicht auch das Nachbardorf verteidigt.

Sicherlich spielt bei Tudjmans profilloser Politik das Verhalten und der Druck des Westens eine Rolle. Aber das Augenverschließen hat in der kroatischen Geschichte selbst und den dortigen Mentalitäten Tradition. So absurd es klingen mag: Die Verkennung der eigentlichen Lage war für das kroatische Volk stets Teil ihres Überlebensmechanismus. Zu Titos Zeiten ist daraus ein System des Illusionismus geworden. So wie der Bevölkerung die im krassen Gegensatz zur Realität stehenden Erfolge des Sozialismus vorgegaukelt wurden, wird nun in den kroatischen Medien durchgehend eine den Krieg bagatellisierende Normalität suggeriert.

Diese vorgebliche Normalität ist besonders deutlich in der Hauptstadt zu spüren, wo sich die Menschen für alles mögliche zu interessieren scheinen, nur nicht für die Dinge, die die Existenz ihres Staates aufs äußerste bedrohen. Gleichzeitig gibt es auch in Zagreb – oder gerade dort – eine Menge Leute, die täglich bis zur Selbstaufgabe den Opfern des Krieges helfen und seine Folgen beseitigen.

Wenn Tudjman eine Strategie hat, dann ist es die der Verleugnung. Sie fing vor dem Krieg mit der Behauptung an, es könne keinen Krieg in Europa geben und hatte ihren Höhepunkt in der bombastischen Verkündung im Frühjahr, der Krieg wäre beendet. Aber auch wenn nicht täglich Grenzorte in Ostslawonien, das dalmatinische Hinterland um Zadar und Šibenik und auch die Umgebung von Karlovac von den Serben beschossen würde, gäbe es für Kroatien den Krieg. Denn er tobt im benachbarten Bosnien-Herzegowina und geht Kroatien an – nicht nur wegen der dortigen Kroaten, die ein konstitutives Volk dieses Staates sind, nicht nur wegen einer halben Million bosnischer Flüchtlinge in Kroatien, sondern weil es ohne ein freies Bosnien auch kein freies Kroatien geben kann. Das wäre sogar dann der Fall, wenn ein Drittel Kroatiens nicht besetzt wäre.

Nun trägt Kroatien eine Riesenlast des Krieges in Bosnien-Herzegowina, ohne daraus zumindest politisch Kapital geschlagen und im Ausland die ständigen Spekulationen über seine Aspirationen, Bosnien teilen zu wollen, aus dem Weg geräumt zu haben. Franjo Tudjman meint, daß Präsidentsein ein Zustand ist und nicht ein Job, dessen Aufgaben es sind, die Gefahren für sein Land und Volk frühzeitig zu erkennen, verläßliche Bündnisse mit befreundeten Staaten zu schließen, politische Strategien mit anderen Verantwortlichen zu entwickeln und sie im Ausland verständlich zu machen.

Daß sein „Zustand“ dem eines Präsidenten würdig ist, ist unschwer zu erkennen: Wappen, bunte Ordensbänder, Fähnchen und schicke Garde schmücken ihn. Man kann sich so richtig vorstellen, wie er dem armen bosnischen Präsidenten Izetbegović, dessen Staat nicht einmal eine Staatshymne hat, bei ihren Begegnungen frohlockend seine ganzen Staatssymbole vorführt. Da ist er ganz sein Landsmann Tito und offensichtlich will er auch seine Rolle „des großen Mannes“ spielen.

Anders als Tito fehlen ihm freilich alle „Voraussetzungen“ für einen Diktator, von Titos hinterlistiger Schläue und seinem außenpolitischen Talent ganz zu schweigen.

Es mag sein, daß die Angliederung jener Teile Bosnien-Herzegowinas an Kroatien, die vor dem Zweiten Weltkrieg kurzweilig zur kroatischen Banatschaft gehörten – was ein Erfolg des wirklich großen kroatischen Politikers Vladko Maćek war – zu Tudjmans fixen Ideen gehört. Eine Strategie zur Erreichung dieses Zieles ist aber auch hier in seiner Politik nicht zu erkennen.

Im Gegenteil: Seine Äußerrungen, die in diesem Zusammenhang bekannt geworden sind, erscheinen ganz und gar kontraproduktiv. Außer Serbien betreibt so allenfalls noch der französische Präsident Mitterand sytematisch eine Teilung Bosnien-Herzegowinas, und dies im Rahmen seiner proserbischen und antikroatischen Politik, die außerhalb von Frankreich niemand wagt, so auch nur zu benennen.

Weil aber kaschiert werden muß, daß diese französische Politik auch anti-moslemisch ist, veranstalten seine Unterhändler und Generäle immer wieder „Friedensgespräche“ zwischen kroatischen und serbischen Führern, um dann die kroatische Seite bloßzustellen.

Nun scheinen die Kroaten und Bosniaken sowie ihre Präsidenten zwar zueinandergefunden zu haben, eine notwendige einheitliche politisch-strategische Linie fehlt jedoch ebenso wie weiterhin die Richtlinien der gemeinsamen Kriegsführung. Mag sein, daß Herr Tudjman erkannt hat, daß eine Teilung Bosnien-Herzegowinas nicht im Interesse Kroatiens ist, von den Interessen der bosnischen Kroaten ganz zu schweigen. Mag sein, daß der kroatische Präsident endlich erkannt hat, daß sie nur in serbischem Interesse ist und eine unablässige Bedrohung Kroatiens darstellen würde, auch wenn Serbien den Kroaten und Moslems irgendwelche territorialen Zugeständnisse machen würde. Anzeichen dafür, daß Tudjman dieser Erkenntnis entsprechend handelt, vermißt man jedoch bislang.

Der populärste Oppositionspolitiker, der junge Liberale Drazen Budisa, hat beizeiten Tudjmans politische Persönlichkeit treffend charakterisiert: gegenüber den westlichen Politikern sei er weich wie Butter und gegenüber seinen oppositionellen Kollegen hart wie Stein. Dies hat aber auch mit der mangelhaften politischen Urteilskraft Franjo Tudjmans zu tun, deren Folgen für die Gesellschaft und den Staat katastrophal sind. Er hat beispielsweise dem Vance-Plan für Kroatien zugestimmt, ohne begriffen zu haben, was seine Konsequenzen sein werden. Und natürlich kam er nicht im Traum auf die Idee, daß über eine solch folgenreiche Entscheidung im Parlament beraten werden muß.

Bedenken und Forderungen der kroatischen Seite wurden ohne viel Federlesens von den Unterhändlern aus dem Weg geräumt. Zum Beispiel auch die Forderung, daß die UN-Soldaten an den Grenzen Kroatiens stationiert werden sollen. Ein verantwortungsvolles Staatsoberhaupt würde ohne entsprechende Zusagen sicherlich diesem Plan nicht zustimmen, und es ist von einer nahezu nicht zu überbietenden Ironie, daß der Sicherheitsrat eine entsprechende Resolution ein halbes Jahr später verabschiedete, als der Krieg bereits in Bosnien tobte und die Stationierung sich als unmöglich erwies.

Nun steht Tudjman mit seiner Hin-und-her-Politik vor dem Scheitern der UN-Mission in seinem Lande genauso ratlos da wie die UNO selbst. Wenn Tudjman verkündet, nach dem Abziehen der UN-Soldaten mit militärischen Mitteln die okkupierten Gebiete befreien zu wollen, muß man solche Ankündigungen mit drei Fragezeichen versehen. Denn der Präsident war auch bei viel geringeren Angelegenheiten unfähig, gegen den Willen des Westens zu handeln und hat sich gerade dadurch in die Sackgasse hineinmanövrieren lassen.

Sobald der Westen mit Sanktionen drohte, machte er einen Rückzieher. Anstatt es darauf ankommen zu lassen, daß Sanktionen offen über ein Land ausgesprochen werden, daß eine halbe Million bosnische Flüchtlinge und eine Viertel Million eigene Vertriebene beherbergt, hat er es jetzt mit stillschweigenden Sanktionen zu tun.

Bei der sogenannten Seeblockade weiß man nicht, ob man lachen oder weinen soll. Die Blockade trifft nämlich nicht nur den serbischen Verbündeten Montenegro, sondern auch Kroatien und Slowenien. Und am schlimmsten trifft sie Bosnien – denn der Seeweg war Bosniens Hauptweg für Waffenlieferungen. Serbien schaden die Sanktionen dagegen kaum. Es versorgt sich mit allem, was es für seinen Krieg braucht, ungestört weiter über die Donau.

Das kroatische Problem Tudjman hat mit seinem in der westlichen Öffentlichkeit gepflegten Buhmann-Image oder gar dem eines kroatischen Miloševićs wenig gemeinsam. Das kroatische Problem ist, daß es einen Präsidenten gewählt hat, der seinen Job nicht richtig macht. Die Aufgabe eines Präsidenten Kroatiens heute wäre, den Zustand des „nationalen Notstands“ zu erkennen und auszurufen, ferner alle politischen Parteien und Kräfte um sich zu sammeln, um gemeinsam die Wege aus dieser Notlage zu finden und eine Strategie für die politische Zukunft zu entwickeln. Eine klare Politik gegenüber dem Nachbarland Bosnien-Herzegowina muß programmatisch festgeschrieben und das bestehende Bündnis präzise definiert werden. Daraus würde sich die Erkenntnis ergeben, daß zur Überlebensstrategie des kroatischen Staates der gemeinsame Kampf für ein freies und einheitliches Bosnien gehört und sich die okkupierten Teile Kroatiens erst wiedergewinnen lassen, wenn Bosnien befreit und soweit befriedet ist, daß es sich auf der Grundlage des Owen-Vance-Planes staatlich organisieren kann. Das läßt sich mit einer verheimlichten Unterstützung der moslemisch- kroatischen Verbände – die nottut und ein moralischer Imperativ ist – bei weitem nicht erreichen. Die Stadt Brčko könnte man zum Beispiel mit einer starken militärischen Unterstützung aus Kroatien befreien – was auch immer der französische Befehlshaber der UN-Truppen, General Morillon, darüber denkt.

Denn diese Stadt, die die Serben in ein Massenbordell und Massengrab verwandelt haben, zu befreien, wäre der Sieg der Gerechtigkeit, auch wenn jemand meint, daß Kroatien dafür bestraft werden sollte. Nicht die nationalistischen Flausen im Kopf des Präsidenten sind ein Problem für Kroatien, sondern sein Versagen als Staatsoberhaupt.

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