: Nur die Toten kennen ihren Namen...
Eine kritische Betrachtung zu James E. Youngs „Beschreiben des Holocaust“ ■ Von Hanno Loewy
Bilder, Filme, Erzählungen, die den Holocaust beschreiben, galten bisher als Zeugnisse – nicht als Gegenstände ästhetischer Kritik. Den Holocaust Be-schreiben, ihn also wie ein Feld der Imagination interpretierend und gestaltend in Besitz nehmen: Diesem Thema widmen sich die Untersuchungen des amerikanischen Kritikers James Young.
Es geht ihm dabei nicht in erster Linie um die Mitteilbarkeit der Vernichtung, sondern um den Prozeß der schreibenden Deutung selbst, um die „Politik der Lektüre“. Ob in Tagebüchern, in denen die Erfahrung der Auslöschung aus der simultanen Perspektive unmittelbarer Bedrohtheit dargestellt wird, oder in der Memoirenliteratur der Überlebenden; in den Doku-Dramen und Romanen, in den Gedichten Sylvia Plaths oder in denen israelischer Soldaten stößt Young auf das Scheitern jedes dokumentarischen Anspruchs, auf die Verwandlung des Holocaust in eine Metapher.
Nur in der deutenden Rekonstruktion, so seine Ausgangsthese, vermag die Wirklichkeit des Holocaust überhaupt literarische Gestalt anzunehmen. Und nur in der kritischen Rekonstruktion der jeweiligen Deutungen vermögen wir widerum überhaupt etwas über dieses Ereignis zu erfahren. „Anstatt den Holocaust außerhalb der Metapher zu suchen, schlage ich daher vor, daß wir ihn in der Metapher finden, in den unzähligen Formen, in denen er vorgestellt, ausgemalt, verzerrt und letztlich als Metapher für andere Ereignisse gestaltet worden ist, denn schließlich bringt jede Metapher uns in unserem Verständnis der Ereignisse wie auch in unserem Selbstverständnis aus der Sicht dieser Ereignisse weiter.“
Ob sich die Konstruktion des Holocaust in der Literatur ideologischer oder religiöser Muster bedient, in welcher politischen oder persönlichen Rhetorik das Ereignis zum Sprechen gebracht wird, hat dabei, so Young, nicht nur Konsequenzen für unseren retrospektiven Blick auf die Geschichte – also für die Konstitution von Geschichtsbewußtsein –, sondern ist selbst Ferment der sich vollziehenden Geschichte. Sein Ziel besteht folglich darin, „sowohl die durch diese Texte erzeugte Vielfalt von Bedeutungen des Holocaust als auch die Handlungen zu erforschen, die diese Bedeutungen außerhalb der Texte nach sich ziehen. „ Es geht mir weniger um eine bloße Dekonstruktion oder eine vollständige Enthistorisierung der literarischen Darstellung oder ihrer Kritik als um deren Rehistorisierung, und das verlangt, nicht bei der Interpretation stehenzubleiben, sondern nach den Konsequenzen der Interpretation für die Geschichte zu fragen.“
Anstatt jedoch danach zu fragen, wie der Prozeß der Vernichtung fortwährender Deutung und Legitimation nicht zuletzt durch die Täter selbst unterlag, also nach der unmittelbaren Wirkung simultaner Rationalisierung und Symbolisierung des eigenen Handelns für das Verbrechen, interessiert sich Young vor allem für die nachträgliche Deutung des Geschehens durch die Opfer beziehungsweise deren literarische Interpretation.
So steht im Mittelpunkt von Youngs Untersuchung die Frage nach dem Weiterleben mit der Erfahrung des Holocaust und der Bedeutung der jeweiligen literarischen Formungen für dieses Weiterleben. Der Holocaust, und dies ist die Provokation des Buches von James Young, ist zunächst einmal ein literarischer Gegenstand wie jeder andere auch, und er muß auch mit literaturkritischen Mitteln bearbeitet werden.
Youngs Strategie kritischer Historisierung, die sich auf die ästhetischen Kontinuitäten in der Beschreibung der Geschichte einläßt, entlarvt zu Recht den Anspruch des literarischen Konstrukts auf unmittelbare Zeugenschaft. Eindrucksvoll weist Young nach, wie die Radikalität der Verstörung sich in einen Prozeß wechselseitiger Symbolisierung entlädt, der sich der Mittel des Dokumentarischen bedient und dadurch sich selbst Authentizität verleiht.
Die Möglichkeiten des „Verstehens“ des nationalsozialistischen Terrors beschränken sich auf die politisch deutbaren Verfolgungen von Regimegegnern, Antikapitalisten, Kriegsgegnern . Diese „verstehbaren“ Verfolgungen werden aber durchdrungen, überlagert und erhöht durch das andere, das namenslose, radikale Schicksal der jüdischen Opfer, die um ihrer bloßen Existenz willen zum Tode verurteilt sind, und deren Vernichtung den Rahmen des politisch Kalkulierbaren überschreitet. So wird die Vernichtung schließlich zur Folie für die eigene Phantasie des Schreckens (wie bei Sylvia Plath), oder für ein politisches Tribunal (wie bei Peter Weiss).
Doch indem Young, an Nietzsche und poststrukturalistischen Autoren geschult, von der grundsätzlichen Fragwürdigkeit des sprechenden Subjekts ausgeht, stellt sich ihm gar nicht mehr die Frage, ob der Holocaust als Ereignis selbst zu dieser Fragwürdigkeit beigetragen hat. Indem er den Anspruch des literarischen Zeugnisses auf authentische Repräsentation der Wirklichkeit mit Recht zurückweist und die Frage nach der Bedeutung der Literatur für das Leben des Schreibenden und des Lesenden in den Vordergrund stellt, weicht er der Frage nach der Mitteilbarkeit dessen, was geschehen ist, zunächst aus.
Young bezieht seinen kritischen Ansatz nicht nur auf moderne poststrukturalistische Literaturtheorien, sondern, angelehnt an Yerushalmis Untersuchungen über die Traditionen jüdischer Historiographie und jüdischen Gedächtnisses, eben auch selbst auf die spezifische Ausformung eines Topos „jüdischer Erinnerung“. Ein Topos, der allerdings von ihm, und dies mag sich noch als Problem seiner Anaylse herausstellen, als durch den Holocaust hindurch intakt geblieben vorausgesetzt wird. Und dies obwohl, so schreibt Young selbst, der Holocaust nicht nur die physische Auslöschung der Juden meinte, sondern auf die Vernichtung selbst ihrer Erinnerung zielte.
„Die totale Liquidation konnte weder durch die physische Vernichtung noch durch das anschließende konsequente Totschweigen der Juden erreicht werden. Wenn es den Nazis jedoch gelungen wäre, den spezifisch jüdischen Typus der Erinnerung auszurotten, dann hätten sie auch die Möglichkeit einer Regenerierung durch das Erinnern zunichte gemacht, die die jüdische Existenz seit jeher kennzeichnet.“
„Jüdischer Erinnerung“, dem Gebot des „Sachor“ gefolgt, geht es nun in der Tat traditionellerweise weniger darum, historiographisch präzise die Geschichte eines womöglich gar linear begriffenen Fortschrittsprozesses niederzuschreiben, als sich in der Deutung historischer Ereignisse auf die religiös symbolisierte Grunderfahrung menschlicher Geworfenheit in die Geschichte überhaupt und ihre immer wieder aktualisierte Doppelgestalt als Katastrophe und Rettung zu beziehen.
„Die Aufgabe der alten Schriftgelehrten und Rabbiner hat niemals darin bestanden, die konkreten historischen Details der Katastrophe im Gedächtnis wachzuhalten: ihnen oblag es vielmehr, die Erinnerung an die traditionellen Paradigmen zu bewahren, nach denen die Ereignisse verstanden und interpretiert werden konnten.“
Jener religiös verbürgte Begriff von Geschichte, der sich auf die Alternative nicht einläßt, entweder die ewige Wiederkehr seit Urzeiten alternierender Zyklen und damit den ewigen Naturzustand, die fortwährende „Wildheit“ des Menschen zu behaupten, noch chiliastisch auf die utopische Erlösung von der Geschichte setzt, ist in der Tat im Judentum stark verankert.
Er sieht in den aktuellen historischen Ereignissen nur Aktualisierungen jener lang zurückliegenden Ereignisse, die die Geworfenheit des Menschen in die Geschichte, und damit in den unendlichen Dialog mit „Gott“, jene unerträgliche Freiheit und ihre Ambivalenz von Katastrophe und Erlösung symbolisieren.
Es spricht viel dafür, daß die jüdischen Deutungen der Shoah – im Verlauf des historischen Vernichtungsprozesses selbst wie auch in ihre Rekonstruktion – symbolisch in dieses Schema gebettet sind.
Young ordnet die Narration des Holocaust in den israelischen Gedenkstätten (hier am Beispiel Jad Vashems) eben jenem Deutungsmuster zu: „Der weite, dunkle Raum, selbst eine Manifestation von Verlust, lädt uns ein zu Gedenken und Besinnung, und dieser Einladung folgen wir im ewig wachen Kontext von Exil, Erinnern und Erlösung.“
Dabei entgeht ihm, daß die Deutung des Holocaust im Schema von Katastrophe und Erlösung auf einen Widerspruch zuläuft, der die Figur „jüdischen Erinnerns“ in seiner Substanz bedroht und in Frage stellt.
So ist einerseits die verbürgte Zwangsläufigkeit von Katastrophe und Erlösung von den Nazis tatsächlich durch den beinahe gelungenen Versuch der vollständigen Auslöschung in nie gekannter Weise in Frage gestellt worden. Darin lag ja gerade das historisch Einzigartige des Holocaust.
Andererseits scheint nun gerade das Überleben wenigstens eines Teils der jüdischen Gemeinschaft den von Young in Anspruch genommenen „Typus jüdischer Erinnerung“ in eine, manchmal fast christlich anmutende Form der Erinnerung an ein sinnhaftes Opfer zu transformieren. Ist es ein Zufall, daß manche Gedenkstätten in Israel eher an Kirchenräume als an Synagogen erinnern?
Die symbolische Überhöhung einer endgültigen (?) Verwandlung von Katastrophe in Erlösung, wie sie die im israelischen Gedenken vollzogene Verknüpfung der Shoah, dem behaupteten Ende der jüdischen Diaspora und der Neugeburt Israels in nationalstaatlicher Form insinuiert, wird in Isarael freilich längst selbst kritisch wahrgenommen und problematisiert.
Die Aporie „jüdischer Erinnerung“ vor dem Hintergrund der Shoah bleibt so unauflösbar. Und diese Aporie ist im Kern keine „jüdische Aporie“, sondern Ausdruck des fundamentalsten Problems, das sich der Erinnerung in den Weg stellt. Das Problem nämlich, daß unsere Erinnerung selbst in ihrer Rekonstruktion nur eine Erinnerung der Überlebenden sein kann, und damit die Totalität der Vernichtung negiert.
Mitteilbar, und zwar in eben jener von Young zu Recht analysierten metaphorischen und konstruierten Form, ist aber nur die Erfahrung des Überlebens, aber nicht die des Todes. Diese Unmöglichkeit entsteht nicht deshalb, weil von seinem Tod ohnehin niemand mehr berichten kann, sondern weil dieser Tod unsere „ästhetische“, unsere traditionelle Vorstellung des Todes als eines sinnvollen Übergangs, als Kampf, als Opfer in radikaler Weise sprengt.
„Seit Auschwitz heißt den Tod fürchten, schlimmeres fürchten als den Tod“, heißt es bei Adorno. Und Lyotard hat diesen Satz präzisiert: schlimmeres, als einen Tod, der „nur das Ende des Endlichen und die Offenbarung des Unendlichen“ ist. Primo Levi hat sich ganz in diesem Sinne geäußert, als er davon sprach, daß Auschwitz der Vorstellung eines „schönen Todes“ das Ende bereitet hat.
Youngs sensible Analyse der Produktion von Zeitzeugeninterviews und ihrer Verwendung in Filmen wie Lanzmanns „Shoah“ kreist zwar um die Frage, wie die schmerzhafte Evokation im Gedächtnis verschlossener, oftmals unerträglicher Bilder und Erinnerungen durch die Interviewsituation selbst zum Gegenstand, zum Inhalt solcher Zeugnisse wird, sie dringt aber ebenfalls nicht zu der vielleicht herausfordernsten Erfahrung vor, daß nämlich in diesen Interviews Menschen versuchen, sich eben jenen Toten anzunähern. Mehr noch als für sich selbst, legen viele der Interviewten ihr Zeugnis für diejenigen (Angehörigen und Freunde) ab, die selbst nicht sprechen können.
In diesen Interviews bekommt die Überlebendenperspektive oftmals einen Sprung. Um dieses schwarze Loch, um dieses Gravitationszentrum, beginnen sie zu kreisen, in dem Versuch sich zu nähern oder auch Abstand zu gewinnen.
Und diese unwillkürliche Bewegung, diese Negativität des Sagbaren: ist dies nur Re-konstruktion, nur Be-schreibung, oder nicht doch so etwas wie eine Mitteilung?
„Das Unsagbare“, so schreibt George Perec, „verkriecht sich nicht im Geschriebenen, es ist das, was das Schreiben lange zuvor ausgelöst hat; ich weiß, daß das, was ich sage, leer ist, farblos ist, ein für allemal das Zeichen ist für eine Vernichtung, die ein für allemal ist. (...) ich werde, selbst in meiner ewigen Wiederholung, in meinem bis zum Überdruß gehenden Grübeln immer nur den letzten Widerschein eines dem Geschriebenen fehlenden Wortes, den Skandal ihres Schweigens und meines Schweigens finden. (...) Ich schreibe, weil wir zusammengelebt haben, (...) weil sie in mir ihr unauslöschliches Zeichen hinterlassen haben und weil das Schreiben die Spur dieses Zeichens ist: die Erinnerung an ihren Tod und die Bejahung meines Lebens.“
Christoph Menke hat in der Zeitschrift Babylon darauf hingewiesen, daß Youngs Versuch einer „literaturkritischen Normalisierung der Holocaust-Literatur“ einer „therapeutisch motivierten Suche nach einer lebensfördernden Perspektive“ gefolgt sei. Um so mehr gilt dies aber für die Holocaust-Literatur selbst. Das „hartnäckige Realitätsverlangen“ (Young) der Holocaust-Literatur, das Beharren auf Zeugenschaft ist vielleicht gar nicht so sehr dem Bedürfnis gefolgt, die Leiden darzustellen, wieder-zu-holen, als dem, die Vernichtung dieser Realität ungeschehen zu machen, dem Bedürfnis nach Gerechtigkeit.
Doch eben weil diese Toten nicht tot sind, sondern vernichtet, weil sie keinen „Ort“ haben, es sei denn einen konstruierten, schlägt die Therapie nicht an, kann der Kampf gegen das Schweigen nicht beendet werden, solange der Sprechende noch lebt. An diesem Paradox der „Gerechtigkeit“ kommt nicht nur die Literatur selber, sondern auch ihre Kritik nicht vorbei.
James E. Young: „Beschreiben des Holocaust“. Jüdischer Verlag bei Suhrkamp, Frankfurt am Main, 1992, 48 DM.
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