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Allein zu Haus

„Leolo“ ein Kindheitsirrsinn von Jean-Claude Lauzon  ■ Von Christof Boy

Leolo hat im Badezimmer unter der Badewanne ein weißes Döschen versteckt. Immer, wenn er auf dem Topf sitzt, drückt und drückt, aber nichts kommt, wirklich gar nichts, dann zieht er es hervor, schraubt den Deckel ab und nimmt ihn heraus – einen Haufen Hundescheiße. Das Leben ist erbarmungslos, also muß man schon als Kind erfinderisch sein. Leolo muß sich viel ausdenken, denn in puncto Fäkalien hat sein Vater einen Fimmel. Das Döschen im Badezimmer dient dazu, die Kontrolle zu überstehen, die Leolo nach jedem verrichteten Geschäft über sich ergehen lassen muß. Denn Vater hat sich von der Großmutter einreden lassen, daß Scheißen gesund ist. Deshalb muß die ganze Familie nach dem Essen Abführmittel schlucken. Die ersten Kindheitserinnerungen Leolos gehen auf die Stunden auf dem Töpfchen zurück, zusammen mit Mutter, die zärtlich auf ihn einredet: „Drück, Liebling, drück.“

Leolo ist anders als der Rest der Familie, zehnmal schlanker als der fette Vater und die stämmig-gutmütige Mutter, viel gewitzter als der leicht debile Bruder, der seine Angst vor den Nachbarjungen durch Bodybuilding kompensiert, freundlicher als der cholerische Großvater, der hin und wieder in die Psychiatrie muß, um sich auszukurieren. Leolo lebt mit ihnen zusammen, muß mit ihnen leben und spinnt sich deshalb seine eigene Welt, in der er nicht mehr ganz dazugehört. „Weil ich träume, bin ich nicht – verrückt“, sagt er, so will er sich schützen vor den Verrücktheiten seiner Familie.

In seinem Verlangen, ein anderer zu sein, erträumt er sich eine italienische Abstammung. Sein Vater, ein Landarbeiter, onaniert im fernen Sizilien in eine Tomatenkiste, die tiefgekühlt über den Atlantik auf genau dem Markttisch landet, den Leolos Mutter mit ihrer ganzen Leibesfülle umreißt. Dabei fällt sie so ungeschickt, daß die besamte Tomate direkt in ihrem Leib steckenbleibt – eine künstliche Befruchtung im wahrsten Sinne des Wortes. So gelingt es Leolo, dem Wahnsinn seiner heruntergekommenen Familie zu entrinnen: „Niemand hat das Recht zu behaupten, ich sei kein Italiener. Dafür ist Italien einfach zu schön, um nur den Italienern zu gehören.“ Wenn ihn jemand mit seinem Nachnamen Loseau anspricht, weist er ihn zurecht – Lozone heiße er, mit Betonung auf dem letzten Buchstaben.

Kinderfilme haben Konjunktur, Hollywood glaubt, mit „Kevin“- Klonen bei den kleinsten Zuschauern Kasse machen zu können – mit dem Hintergedanken, daß jede an ein Kind verkaufte Kinokarte einen erwachsenen Begleiter mitzieht, der dann den vollen Preis zu zahlen hat. Steven Spielberg war der erste, der die Kinder für sich entdeckte und ihre Augen mit Filmen wie zuletzt „Hook“, bunt und klebrig wie Marshmallows, zukleisterte. Dabei machen diese Filme gar keinen Hehl daraus, mit wieviel Freude die Macher ihren wiederentdeckten kindlichen Spieltrieb ausleben und damit umgehen wie der Vater, der seinem Sohn die geschenkte Eisenbahn vorführt.

Auch Jean-Claude Lauzon ist verliebt in die Kindheit. Sein Film „Leolo“ richtet sich an uns – Erwachsene, die offen oder insgeheim dem Wunsch nachhängen, sich etwas von der Lebendigkeit der Jugend bewahrt zu haben. „Leolo“, darin noch stärker als „Toto der Held“, gelingt es, uns in staunende Kinder zu verwandeln, die vor einem aufgeschlagenen Bilderbuch sitzen und sich die Augen reiben. Jean-Claude Lauzon hat noch Träume – und Lust am Fabulieren.

Leolos Familie lebt am unteren Ende der sozialen Skala. Da hat man keine Zeit für die Ängste und Verwirrungen eines Knaben an der Schwelle zur Pubertät. Leolo wird für normal genommen, und das ist schlimm, wenn man sich von Spinnerten umgeben wähnt. „Weil ich träume, bin ich nicht verrückt“ – Leolos Satz der Abgrenzung wird für ihn zum Katechismus. Seine Erinnerungen gehören ihm nicht allein. Die finsteren Hinterhöfe und müllübersäten Straßen im Elendsviertel Montreals waren auch der Spielplatz des frankokanadischen Filmemachers Jean- Claude Lauzon. Vielleicht ist für ihn der Film ein Therapeutikum, obsessiv genug ist er dafür. Bilder quellen aus ihm heraus, als hätte sich eine Verstopfung gelöst. Im Hang zu immer neuen, noch wunderlicheren Phantasien gleicht er dem Vater Leolos: Die Menge macht es.

„Nein, es gibt keine ,behütete‘ Kindheit“, schrieb Jacques Rivette in einer Rezension über „Les 400 Coups“ von Francois Truffaut. Die ersten Schritte im Leben sind nie die leichtesten. Woody Allen läßt in seinem Film „Verbrechen und andere Kleinigkeiten“ einen jüdischen Philosophen sagen, daß die Liebe nichts anderes als das Bemühen sei, vom Partner etwas zurückzubekommen, was während des Aufwachsens gefehlt hat. Filmemachen als Suche nach der verlorenen Kindheit. Jean-Claude Lauzon mag mit diesem Film den Knoten der Verstrickungen in seiner Vergangenheit durchschlagen haben. Aber er gibt nur vor, etwas von sich zu zeigen. Hinter den heiter-melancholischen Übertreibungen und der gekonnten Fabuliererei versteckt er sich geschickt: seine Lebensgeschichte – ein Abwehrsystem aus Phantasie. Lauzon liebt das Trügerische an seinen Bildern. Da erzählt einer vom Leid, daß es eine Freude ist. Das Elend der Armen, eine burleske, turbulente Tragikomödie. Selbst der am Strick baumelnde Großvater wird zum Lacher, denn Lauzons schelmisches Talent tröstet über jedes unglückselige Ereignis hinweg – ein Lachen muß es sein, auch wenn wieder etwas Schreckliches passiert ist.

Gegen Ende verspürt man – ganz leicht nur – den Drang, dieser orgiastischen Fülle irgendwann entkommen zu können. Wenn Leolo sich langsam in seiner pubertären Einsamkeit verliert und einen Schlitz in ein Stück Leber schneidet, um beim Durchblättern der Sexheftchen ein weiches Gefühl in den Lenden zu haben; wenn der Bruder auf die Nase fällt, weil er nun zwar stark ist, aber keiner Fliege ein Leid zufügen könnte; wenn zwei Knaben eine dralle Dirne aus der Nachbarschaft begrapschen und dabei masturbieren, wenn die Clique der Kleinen eine krallenlose Katze auf dem Küchentisch penetriert, dann sehnt man sich nach ein paar Sekunden Atempause und wünscht sich die Leinwand fast so weiß wie das leere Blatt Papier, das Leolos Bruder bei einem Intelligenztest abgibt und behauptet, einen weißen Hasen im Schnee gemalt zu haben. Als die Mutter das Bild betrachtet, dreht es der Bruder herum – sie hat es sich auf dem Kopf angeschaut. Es kommt eben immer auf die Vorstellungskraft an. Jean-Claude Lauzon hat sie uns mit diesem Film wiedergegeben; nur ab und zu will er uns weismachen, daß allein die Menge der Eindrücke zählt. Er vergißt, daß auch Bilder wie Abführmittel wirken können.

Jean-Claude Lauzon: „Leolo“. Mit Maxime Collin, Ginette Reno, Julien Guiomar u.a. Frankreich/ Kanada 1992, 110 Minuten.

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