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Wieviel Fremdes im Eigenen?

■ Multikultur, Kulturrelativismus und der Schulalltag: Die Diskussion um die Multikulturelle Gesellschaft hat erst begonnen

Wieviel Fremdes im Eigenen?

Multikultur, Kulturrelativismus und der Schulalltag: Die Diskussion um die Multikulturelle Gesellschaft hat erst begonnen

Multikultureller Alltag: Ein Bremer Schnellimbiß um die Mittagszeit. Zwei junge Frauen stehen am Tresen, stopfen hastig eine Portion Pommes in sich hinein in der viel zu kurz bemessenen Mittagszeit. Aber sie sind guter Dinge: Sie lachen, ein Wort gibt das andere — aber was für Worte? „Was ich noch erzählen wollte“, sagt die eine, aber dann versteht der Mann am Nebentisch kein Wort mehr. Nicht, weil die Frau so leise sprechen würde. Die beiden Frauen sprechen eine Mischung aus deutsch und türkisch, satzweise geht es mal deutsch, mal türkisch hin und her.

Eine illustre Runde war geladen: Vom noblen Zeit-Feuilletonisten über eine gemischte WissenschaftlerInnenriege aus Jura und Pädagogik, über Richter, BehördenvertreterInnen, LehrerInnen — Bildungssenator Henning Scherf hatte in der vergangenen Woche geladen, um abseits des großen Publikums einmal querbeet nachzudenken über Glaubensfreiheit und Schulzwang.

Anlaß war das Urteil des Bremer Oberverwaltungsgerichtes, das im vergangenen Sommer einer türkischen Schülerin das Recht zugebilligt hatte, nicht am gemischten Sportunterricht teilnehmen zu müssen. Das Mädchen hatte es nicht mit ihrem Glauben vereinbaren können, leicht bekleidete Jungen zu sehen. Das Urteil hatte in der Schulbehörde helle Empörung ausgelöst und wurde dort als Dammbruch interpretiert: Wenn es damit anfängt, dann ist die Befreiung vom Biologieunterricht nahe und dann drohe das Ende des Schulsystems. Der Bindungssenator hat Revision eingelegt.

Das Schulsystem mit dem Kopftuch erwürgt

Schon diese juristische Interpretation zeigt, wie explosiv ein Konflikt wahrgenommen wird, der sich vor allem in den Schulen zeigt: Dort kracht es immer zuerst, wenn unterschiedlichste

hierhin bitte die

beiden alten Frauen

Keine Angst vor der Fremde, die 15.000ste AuwandererIn nach 1945: Oma Auzemas mit ihrer Tochter auf dem Weg nach KanadaFoto:Archiv

Kulturen weitgehend unvermittelt aufeinandertreffen. Wenige Berichte aus der Bremer Schulpraxis machten deutlich, wie schwierig der Alltag der Multikulturellen Gesellschaft zu leben ist. Und die Diskussion zeigte, wie tief verunsichert die deutschen Seelen sind, wenn sie formulieren sollen, wie denn ein ziviles Zusammenleben des Eigenen mit dem Fremden aussehen solle, und was dann am Eigenen

Dürfen die das? Wieviel Religion verträgt die Schule?Foto: Tristan Vankann

verteidigenswert ist. In Frankreich hatte der Konflikt um das Kopftuchtragen in der Schule einen langen kulturpolitischen Streit ausgelöst: Die klügsten Köpfe der Grande Nation versuchten zu definieren, was denn noch die kulturelle Identität in der multiethnischen und multikulturellen Gesellschaft ist. Kurz: Was ist Frankreich? Im wiedervereinigten Deutschland steht diese Debatte noch weitgehend aus. Noch besteht die Diskussion weitgehend aus Fragezeichen.

Kaum glaubte eine der TeilnehmerInnen an der Debatte, nun sei wenigstens mit der Zehe das rettende Ufer der Gewißheit erreicht, wurde sie schon wieder in ein Meer von Fragen und Widersprüchen zurückgestoßen.

Worum geht es denn eigentlich, wenn man über die Konflikte in einer multikulturellen Schulklasse redet? Wenn davon be

richtet wird, daß ausländische, vor allem türkische, Jungen überproportional häufig mit Disziplinarmaßnahmen überzogen werden — redet man dann eher über ein Problem im Zusammenleben mit Ausländern? Oder steckt dahinter nicht ein viel generelleres Phänomen: „Ein Entgruppungsvorgang“, wie ein Lehrer aus Gröpelingen es nannte, der Schule insgesamt gewalttätiger macht? Ist es denn

hierhin bitte die drei

Mädchen mit Kopftüchern

nicht die deutsche Gesellschaft, die auseinanderfliegt?

Wenn über den Islam geredet wird, worüber wird dann geredet? Über den Fundamentalismus? Und würde in derselben Schärfe über andere Fundamentalismen geredet, die nicht weniger rigide sind? Die Kinder der evangelischen Fundamentalisten aus den Pfingstlergemeinden der Aussiedler sind in einer Schulklasse nicht weniger schwer zu integrieren, als die Kinder islamisch-fundamentalistisch geprägter Eltern. Die Lehrer aus der Pfingstlerhochburg Tenever wußten davon ein Lied zu singen: Wie den Kindern das Singen und die Kreisspiele und das sich Anfassen verboten wird und, und. Davon war auch die Rede, wenn es aber darum ging, Beispiele für brennede Konflikte zu finden, hatten diese immer mit dem Islam zu tun. Und während die Sprache der aufgeklärten Diskutanten gegenüber der „eigenen“ Religion immer eher mitleidig-milde war, gewann sie bei aller Differenziertheit gegenüber dem fremden Glauben immer an Schärfe.

In 19 Bremer Schulen mit hohem AusländerInnenanteil wurden die Lehrer befragt, und nur ein Teil gab an, daß sich in den letzten Jahren die Konflikte zwischen den Kulturen verschärft hätten. Aber doch war in der Runde spürbar, daß sich in den letzten Jahren etwas verändert hat: Das Klima an den Schulen ist insgesamt rauher geworden, die Bereitschaft hat nachgelassen, sich auf Ungewohntes, Fremdes einzulassen. Auch wenn Konflikte nicht sofort ausbrechen, so der Tenor der Berichte, so sei doch eine untergründige Aggression spürbar. Und dabei sind es gar nicht die Konflikte zwischen SchülerInnen selbst, die zuallererst als Beispiele genannt werden, sondern Dissonanzen im Alltag von Schulorganisation, die am Ende der Kette aber auch Reaktionen bei den anderen Schülern provozieren. „Bloß weil die nicht mitdürfen, warum gibts dann plötzlich überhaupt keine Klassenfahrt mehr?“ Das ist die Frage, die in manchen

Klassen gestellt wird. Die Klassenfahrten — das ist neben dem Schwimmunterricht und der Sexualkunde in allen Berichten ein Konfliktfeld in Bremer Schulen. Und in den allermeisten Fällen dreht es sich dabei um Mädchen, die trotz intensiver Elterngespräche nicht dürfen: Nicht schwimmen, nicht an dem gottlosen Unterricht teilnehmen, nicht mit ins Schullandheim fahren.

Was soll eine SchulleiterIn, was eine LehrerIn tun, wenn die einen Eltern unterstützt vom Imam die Befreiung von Teilen des Unterrichts fordern, und die anderen fast flehen, man solle den Fundamentalisten nicht nachgeben, weil man damit deren Macht in der Gemeinde noch vergrößere? Wo endet da, juristisch formuliert, das Elternrecht, und wo muß der Schutz des Kindes einsetzen? Und was heißt das, „Schutz des Kindes“? Daß den türkischen Mädchen auf Biegen oder Brechen die Emanzipation eingebleut werden müsse, das könne auch nicht richtig sein, sagte eine der DiskussionsteilnehmerInnen. „Was haben wir einem solchen Mädchen denn anzubieten? Nichts! Wenn sie ihre Familie verläßt, fällt sie in ein tiefes Loch.“

Die in den Schulen, die täglich mit diesen Fragen umgehen, sind immer hin-und hergerissen zwischen Toleranz und Rigidität: „irgendwo ist doch Schluß!“ Aber wo?

Der Konflikt um das türkische Mädchen und den koedukativen Sportunterricht, das zog sich wie ein Faden durch viel Beiträge, ist kaum geeignet, Antworten auf die Fragen zu geben. Was wäre so schlimm, nach Geschlechtern getrennte Sportgruppen einzuführen? Und nach den Berichten aus der multukulturellen Praxis wurde deutlich, daß fast alle, oder gar tatsächlich alle Konflikte ganz und gar schon weit unterhalb der juristischen Ebene zu lösen seien — und bislang auch gelöst werden. Die Theoretiker klappern da eher hinterher. Wenn in einer Schule 30, 40, 60 Prozent der SchülerInnen nicht deutsch als Muttersprache spre

chen, dann muß sich die Schule von selbst auf diese Situation einstellen: Es wird muttersprachlicher Unterricht angeboten, vor Klassenfahrten wird versucht, in Elterngesprächen alle denkbaren Ängste und Vorbehalte abzubauen. Die sind massiver, wenn eine Kultur, in der die Familie eine zentrale Rolle spielt, auf eine andere prallt, in der Familienstrukturen seit mehreren Generationen bröckeln. In der Schule findet die Multikultur schon lange statt. Aber: Die Klima wird kälter, und die Schulen fühlen sich mit ihren Problemen alleingelassen. Und bei vielen Konflikten ist die Kulturdifferenz nur ein Detail: Es ist die deutsche Gesellschaft, in der massenhaft Beziehungen zerbrechen, in denen Kinder aufwachsen. Und auf die verunsicherten deutschen Männer und Frauen, die mit der Definition ihrer Geschlechterrolle nicht zurechtkommen, treffen nun, überspitzt formuliert, selbstsichere Macho-Jungmänner. Es sei doch wohl einsichtig, daß das provoziere, so eine Bremer Hochschullehrerin.

Die Angst geht um in den verschiedenen Kulturen, die in Deutschland wohnen: Die Angst vor dem Verlust der Sicherheit, des Eigenen, wenn man so will, der Identität. Eine Flucht geht in die scheinbare Gewißheit der Fundamentalismen, eine andere in die vage Hoffnung, die Gerichte mögen klären, wozu sich die Gesellschaft noch nicht in der Lage sieht. „Wir brauchen den Glauben, denn wir brauchen etwas, woran wir uns festhalten können“, wurde ein türkischer Vater zitiert, und es hätte auch ein deutscher Justiziar sein können. Eine der wenigen Forderungen, die den ungeteilten Beifall des Forums fand, war, daß endlich mehr Kommunikation organisiert werden müsse, um die Konflikte lösen zu helfen, und zwar unterhalb der Schwelle der Gerichte: Was wissen wir denn von dem Islam, den es so wenig gibt wie das Christentum?

Was gibt es zu verteidigen? Wo endet die Toleranz oder endet die Toleranz am Ende in der Beliebigkeit des Kulturrelativismus? Wieviel deutsche Identität wollen wir uns leisten? Was ist das einigende Zentrum, das sich in interkulturellen, aber innergesellschaftlichen Konflikten durchsetzt?

Darauf folgte fast nur Achselzucken: Die deutsche Gesellschaft sucht nach sich selbst, in den Konflikten mit kultureller Fremdheit wird diese Verunsicherung offenbar. Der Streit darum muß noch organisiert werden — außerhalb der Gerichte. Jochen Grabler

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