: Aus den Augen, aus der Welt
Feministinnen und christliche Fundamentalisten in unheiliger Allianz gegen „sexuell eindeutiges Material“ ■ Von Marcia Pally
In der amerikanischen Sprache bezeichnet sexual explicit materialsexuelle Darstellungsformen, über deren negativen Charakter oder schädliche Auswirkungen noch nicht entschieden ist. Diese Formulierung hat im Deutschen keine Entsprechung. Wir sprechen im Sinne der Autorin daher von sexuell eindeutigem Material.(Anmerkung d. Redaktion)
In den Vereinigten Staaten wird diesertage Zensur als Allheilmittel und Rettung aus höchster Not gepriesen. Wie die reisenden Quacksalber des 19. Jahrhunderts, deren Universalmittelchen alles heilten, was den Klienten gerade drückte, behaupten die Bücher- (und Film- und Schallplatten-) Verbieter, ihre Kur könne aufräumen mit Gewalt und Aufruhr: Laßt die bösen Bilder verschwinden, und die bösen Buben werden ihnen folgen. Dieses Versprechen eines besseren Lebens, das sich einlösen wird, sobald erst ein paar Zeitschriften und Filme vom Erdboden getilgt sind, hat der Zensur den Charakter eines Linderungsmittels verliehen und sie verführerisch gemacht für alle, die es gut mit uns meinen.
Das häufigste Argument lautet, Bilder sexuellen Inhalts seien die Wurzel allen Übels und machten die Gesellschaft krank; ihre Eliminierung werde deshalb dem ganzen Jammer ein Ende machen. Sowohl Gesetzgebung als auch Gerichtsurteile, die die Freiheit der Meinungsäußerung in den USA beschneiden, beschäftigen sich nahezu ausschließlich mit sexuellen Dokumenten und Darstellungsformen – wie übrigens auch die Angriffe auf die Institution der „National Endowment for the Arts“; mit einer Ausnahme haben sie sich immer gegen schwule Männer und Feministinnen gerichtet, die in ihrer Arbeit sexuelle Themen am ehesten aufgreifen. Die Angriffe gegen die Jugendbuchautorin Judy Blume, die am stärksten indizierte Autorin der USA; die Rücknahme von NEA-Stipendien für vier Performance-KünstlerInnen und die Galerie „Artistspace“ vor zwei Jahren; die Beendigung der Finanzierung der Franklin-Furnace-Galerie wegen nach 16 Jahren plötzlich „ungenügender künstlerischer Qualität“; der Prozeß gegen Robert Mapplethorpes Fotografien in Cincinnati oder die Angriffe des republikanischen Präsidentschaftskandidaten Patrick Buchanan gegen den Experimentalfilm „Tongues United“: jede dieser Attacken richtete sich gegen künstlerische Auseinandersetzungen mit Sexualität, Nacktheit und Aids. Die neue sozialarbeiterische Argumentation hat den alten, religiös begründeten Sanktionen gegen Sex einen progressiven Anstrich gegeben. Verbote von Büchern und Filmen sind salonfähig geworden, weil viele Bürger über Drohungen mit dem Fegefeuer nur noch grinsen können.
Im Laufe der letzten fünf Jahre hat auch anderes als sexuell eindeutiges Material Zensurversuche angezogen: Konservative möchten Blasphemie verbieten und Liberale die Hate-Speech, die sie für Rassismus, Sexismus und Schwulenhaß verantwortlich machen.
Der dahinterliegende Gedanke ist immer der gleiche: Verbietet das Bild, und ihr werdet die Tat los. Den Bildern die Schuld zu geben ist leicht zu begreifen und gut zu verkaufen; die These bietet simple Erklärungen für menschliche Antriebe und Handlungen und basiert auf der praktischen Überzeugung, der Mensch sei eigentlich gut, gäbe es da nicht die bösen Kräfte, die von außen an ihm zerren.
Die Bilder sind schuld
Das vielversprechende Allheilmittel der Zensur von sexuell eindeutigen Bildern wird von den religiösen Ultrarechten wie dem rechten Flügel der feministischen Bewegung in den USA gleichermaßen gefördert. Die bekanntesten Religionsfanatiker sind die Senatoren Jesse Helms und Strom Thurmond nebst Donald Wildmon, dem Vorsitzenden der amerikanischen Familienvereinigung, einer christlichen Initiative zur Kontrolle der Medien mit einem Budget von über fünf Milliarden US-Dollar. Von den rechten Feministinnen sind vor allem Catharine MacKinnon und Andrea Dworkin international bekannt. Beide Gruppierungen behaupten, die Beschränkung von sexuell eindeutigem Material reduziere die Fälle von Vergewaltigung, Inzest und häuslicher Gewalt. Rechte Feministinnen fügen dieser Liste noch sexuelle Belästigung und Sexismus hinzu, christliche Fundamentalisten erhoffen den Rückgang von „rassisch gemischtem“ Sex, Homosexualität, labilen Familienverhältnissen und Feminismus. Nicht selten zensieren beide Lager dasselbe Material, nämlich Männermagazine und Videos, einschließlich solcher Mainstream-Publikationen wie Playboy. Beide Gruppen mißbilligen Darstellungen (einvernehmlich gewählter) Sado-Maso-Praktiken, wie sie oft in schwulen und lesbischen Publikationen oder in den Fotografien von Robert Mapplethorpe auftauchen. Obwohl der Stein des Anstoßes nicht immer identisch ist (Fundamentalisten greifen Sex- und Aids-Aufklärungsmaterial an, rechte Feministinnen nicht), gehen sie gegebenenfalls politische Koalitionen ein, wie beispielsweise 1985, als sie gemeinsam präzedenzschaffende Restriktionen sexuell expliziten Materials in Minneapolis und Indianapolis durchsetzen wollten; in beiden Fällen wurden die Beschränkungen vom Obersten Gericht als nicht verfassungsgemäß später wieder aufgehoben. Zur Zeit unterstützen beide Lager einen Gesetzesentwurf in Massachusetts, der nur geringfügig von den beiden Zensurgesetzversuchen von 1985 abweicht. Gleichzeitig stützen beide Seiten den „Pornography Victims Compensation Act“ (PVCA – Entschädigungsgesetz für Pornographie-Opfer), das von seinen Gegnern die „Pornos- haben-mich-dazu-gebracht“-Ausrede und „Bücherverbot als moralische Bankrotterklärung“ getauft wurde.
Das PVCA-Gesetz ist bekannter als „Ted-Bundy“-Gesetz, so benannt nach dem Serienmörder, der nach erfolglosem Plädoyer auf Unzurechnungsfähigkeit plötzlich gestand, er habe seine Morde unter Einfluß pornographischer Bilder begangen, eine Taktik, die ihn vor dem elektrischen Stuhl retten sollte.
Wie man es auch immer nennt, dieses Gesetz ist ein gutes Beispiel für die „Bilderschuld“-Argumentation der christlichen wie der feministischen Rechten. Es behauptet, daß Bilder von Sex Gewaltbereitschaft gegen den Frauenkörper (sagen die Feministinnen) oder gegen den Gesellschaftskörper (sagen die Fundamentalisten) hervorrufen. Noch gefährlicher seien Abbildungen sadomasochistischer Praktiken (für die Feministinnen) beziehungsweise von „rassisch gemischtem“ sowie homosexuellem Sex (für die Fundamentalisten).
Die Heilung ist schnell und direkt zu haben und lockt zudem mit dem Versprechen von peace in our time. (Mit diesen berüchtigten Worten pries Chamberlain das Münchner Abkommen; Anm. d. Red.) Das PVCA führte jedoch, da es Worte und Bilder statt Taten verfolgt, nicht zu einer Verbesserung der sozialen Dienste, die sich immer schon mit der Hilfe für die Opfer von Verbrechen beschäftigt haben, wie etwa Notruf- und Krisenzentren für vergewaltigte Frauen oder Ausbildungskurse für RechtsanwältInnen und PolizistInnen, die mit Fällen von häuslicher Gewalt und sexuellem Mißbrauch konfrontiert sind. Letztlich ist der Gedanke, daß Bilder schaden, deshalb falsch, weil er weder sexuell eindeutige Bilder noch das, was wirklich Schaden anrichtet, begreift.
Was die Geschichte lehrt
Gewalt und Sexismus blühten schon Jahrtausende lang vor der Erfindung von Druckerpresse und Kamera. Die überwältigende Mehrheit derer, die in der Geschichte vergewaltigten, Frauen schlugen oder ihre Kinder mißbrauchten, haben keine visuellen „Anregungen“ gehabt und gewiß weder Rap noch Heavy Metal gehört. Von Ländern wie Saudi-Arabien und dem Iran, in denen weder solches Bildmaterial noch westliche Musik erlaubt sind, kann man
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durchaus nicht behaupten, sie seien auf dem Gebiet sozialer Harmonie oder Frauenrechte besonders erfolgreich. Drogen wurden Jahrhunderte lang ohne das Leitbild Rockmusik konsumiert, in manchen Gesellschaften, wie der chinesischen und der der amerikanischen Indianer, von einem hohen Prozentsatz der Bevölkerung. Und Teenager sind auch ohne Hilfe von Rock 'n' Roll und Sexbildern schon schwanger geworden. Homosexuelle – vor allem für die religiöse Rechte ein Riesenproblem – hat es in jeder Kultur gegeben; Soziologen rechnen mit zehn Prozent Homosexuellen in jeder Gesellschaft, ob es nun entsprechende sexuelle Darstellungen gibt oder nicht.
Angesichts des historischen Erfolges von Gewalt und Sexismus ist es eher unwahrscheinlich, daß sich ihre Existenz den Nachzüglern Pornographie und Rockmusik verdanken soll.
Einige Vertreter der Bilderschuld-These behaupten, die Haltung von Männern gegenüber Frauen habe sich aufgrund der Kommerzialisierung von Sex verändert. Sie können ja wohl nicht jene glücklichen vorpornographischen Zeiten meinen, in denen Frauen weder wählen noch Verträge unterzeichnen durften, ihr Einkommen nicht selbst verwalten und kein Sorgerecht für ihre Kinder beanspruchen konnten und sich ohne Erlaubnis ihrer Väter oder Ehemänner nicht in der Öffentlichkeit zeigen durften. Zeiten, in denen es üblich und legal war, seine Frau mit dem Stock zu züchtigen und Vergewaltigungen, in den Worten der Schriftstellerin Ann Snitow, außer von einer kleinen Elite von Frauen „nicht angezeigt werden konnten, weil sie sich von selbst verstanden“.
Keine seriöse Untersuchung macht heute eine kausale Beziehung zwischen sexuellen Darstellungen und Gewalt, häuslichem Unglück oder Eheproblemen.
In der ganzen Fülle wissenschaftlicher Literatur zum Thema findet man nirgends die Behauptung erhärtet, daß sexuell eindeutiges Material heute mehr Gewaltszenen enthält als die Pornographie vor zwanzig Jahren1 oder daß Sexdarstellungen Aggressionen auslösen. Die beste Zusammenfassung dieser Ergebnisse findet man in dem Band „The Question of Pornography: Research Findings and Policy Implications“ von Edward Donnerstein, Daniel Linz und Steven Penrod.2 Als die Meese-Kommission in Abweichung von ihren eigenen Forschungsergebnissen Restriktionen für die Verbreitung sexuell expliziten Materials empfahl, gaben zwei weibliche Kommissionsmitglieder ihrer abweichenden Meinung in einer Stellungnahme Ausdruck, in der es hieß: „Kein seriös arbeitender Kriminalist würde es wagen, solche Schlußfolgerungen aus den vorliegenden Untersuchungsergebnissen zu ziehen.“ In mehreren Studien der letzten zwanzig Jahre ist sogar gezeigt worden, daß unter Laborbedingungen Pornographie ohne Gewaltanteile Aggressionen reduziert.
Aber auch die Vorstellung, daß „perverse“ oder „degradierende“ Darstellungen Gewalt und Mißachtung gegenüber Frauen fördern, wird nirgendwo bewiesen. Die „Surgeon General C.E. Koop's“-Konferenz zum Thema Pornographie hielt lediglich folgende Feststellung über „degradierende“ Sexualdarstellungen für abgesichert, daß die Vorführung solchen Materials die Versuchspersonen zu der Annahme veranlasse, eine bestimmte Bandbreite sexueller Praktiken existiere in der Realität. Dabei stimmten interessanterweise die Schätzungen der Versuchspersonen, denen man solches Material vorgelegt hatte, ziemlich genau mit der tatsächlichen Verbreitung verschiedener Praktiken überein.4
Forschungsergebnisse über Darstellungen sexueller Gewalt sind höchst uneindeutig: während Donnerstein, Linz und Penrod feststellten, daß Gewaltpornographie unter Laborbedingungen aggressive Stimmungen in den männlichen Versuchspersonen verstärkten, fanden Neil Malamuth und Joseph Ceniti keine Anhaltspunkte für eine solche Wirkung.5 Als Zeuge vor dem Bezirksgericht von Ontario warnte Donnerstein vor voreiligen Schlüssen: Jede Form von physischer Erregung, einschließlich Gymnastik, steigert meßbar das Aggressionsniveau. „Was man mißt, ist ,Erregung‘, nicht ,sexuelle Erregung‘“, sagte er. 1990 schrieb er zusammen mit Linz über die Forschungen zur Beziehung zwischen Gewaltdarstellungen und Gewalt gegen Frauen: „Die Ergebnisse sind korrekt, solange wir uns auf Laborergebnisse von Aggressionsstudien beziehen... Ob solche Aggressionen, die meist die Bereitschaft zur Verabreichung von (fiktiven) Elektroschocks messen, real aggressiven Handlungen wie zum Beispiel der Vergewaltigung entsprechen, ist eine völlig andere Frage.“
Dr. Suzanne Ageton, eine der wenigen WissenschaftlerInnen, die sich mit der Erforschung von Aggressionen im Alltag befaßt haben, stellte fest, daß für die Bestimmung der Häufigkeit von Gewalttaten durchweg die Zugehörigkeit zu einer kriminellen Bezugsgruppe entscheidender Faktor war: 76 Prozent aller sexuellen Gewaltdelikte sind darauf zurückzuführen. Drei weitere Faktoren, einschließlich der Einstellung der Täter zu Frauen und Vergewaltigung im allgemeinen, erklärten weitere 19 Prozent der Fälle.7
Die Auffassung, daß Paraphilien (ungewöhnliche Sexualpraktiken) durch ihre bildliche Darstellung hervorgerufen werden, ist ebenfalls unbegründet. Die medizinische und psychologische Literatur zeigt, daß solche Minderheitspraktiken von unvorhersagbaren, idiosynkratischen Lebenserfahrungen bestimmt werden. Nach Auskunft von John Money, Direktor der Forschungseinheit für psychohormonelle Forschung an der Hopkins-Universität und ein Experte in Sachen Paraphilien, sind „die Phantasien solcher Praktiken nicht ,ansteckend‘ und keine Vorlieben, die etwa aus Büchern, Filmen oder von anderen Menschen übernommen wurden“.8 Wer also nach solchem Spezial- Bildmaterial Ausschau hält, ist von ihm angezogen, weil er sich für die darin dargestellten Praktiken ohnehin schon interessiert.
Money schreibt weiter, daß die fehlgeleitete Sexualität von Vergewaltigern und Kindesmißhandlern auf Kindheitstraumata zurückgeht, in der Regel auf Erfahrungen von Inzest, physischer Bestrafung, Vernachlässigung und emotionaler Indifferenz in der Familie. Er fand keine Hinweise darauf, daß sexuelle Darstellungen sexuelle Verbrechen oder abweichende Verhaltensweisen auslösen oder verstärken.
In einem Interview mit der New York Times sagte Money 1990, daß die Mehrheit aller Menschen mit ungewöhnlichem oder kriminellem Sexualverhalten in sexualitätsfeindlichen, repressiven Familien aufgewachsen seien, und er prophezeite, daß die „derzeitige repressive Haltung gegenüber Sexualität eine wachsende Epidemie von abweichendem Sexualverhalten erzeugen wird“.10
Auch die Behauptung, daß die Zugänglichkeit von sexuell eindeutigem Material in einem bestimmten Gebiet mit der Rate an Sexualverbrechen korreliert, wird von keiner Studie gestützt. Anfang der 80er Jahre schienen mehrere Forschungen, besonders die von Larry Baron und Murray Strauss, einen solchen Zusammenhang nahezulegen.11 In allen darauf folgenden Studien jedoch wurde als einziger Indikator für Vergewaltigungsraten die Anzahl männlicher Bewohner in jugendlichem Alter festgestellt.12 „Es gibt keinen Beweis für eine Beziehung zwischen populären Sex-Zeitschriften und Gewalt gegen Frauen“, schrieb Cynthia Gentry in ihrer Untersuchung 1989.13 Interessanter noch ist die Studie von Larry Baron von 1990, die eine positive Korrelation zwischen dem freien Verkauf sexuell expliziten Materials und geschlechtlicher Gleichstellung feststellte. Baron schreibt, daß beides nur in politisch tolerantem Klima gedeiht. Seiner Studie zufolge ist die Existenz und Zahl fundamentalistischer Gruppen der beste Indikator für eine Ungleichbehandlung von Männern und Frauen in einer Gesellschaft.
Forschungen in Europa und Asien bestätigen diese Ergebnisse. Die britische Untersuchung zu Obszönität und Filmzensur (das Williams-Komitee) äußert sich entsprechend mit folgender Stellungnahme: »Wir weisen eindeutig die Auffassung zurück, daß die vorliegenden Statistiken für England und Wales eine Argumentation stützen könnten, die von einer Stimulation sexueller Verbrechen durch Pornographie ausgeht.“15 Dr. Berl Kutchinsky vom Institut für Kriminologie der Universität Kopenhagen stellte fest, daß sexuelle Verbrechen nach der Freigabe sexuell eindeutigen Materials in Dänemark sogar zurückgingen.16
Auch Forschungen in Asien zeigen keinerlei Beziehung zwischen der Verfügbarkeit sexuell eindeutigen Materials, einschließlich Gewaltdarstellungen, und der Häufigkeit sexuell motivierter Verbrechen. In Singapore, wo Pornographie wesentlich strengeren Kontrollen unterliegt, hat es zwischen 1964 und 1974 einen dramatischen Anstieg von Vergewaltigungen gegeben: 26 Prozent mehr Delikte als in Stockholm, das im selben Zeitraum seine Gesetze bezüglich Pornographie liberalisierte. In Japan, dessen pornographisches Material häufig Darstellungen von Fesselungen, Brutalität und Vergewaltigung enthält, ging im gleichen Zeitraum die Häufigkeit von Vergewaltigungen um 45 Prozent zurück.17 Verglichen mit der Vergewaltigungsrate in den USA, 34,5 Delikte auf 100.000 Einwohner, ist die japanische Rate mit 2,4 erstaunlich niedrig.
Anstängige und unanständige Frauen
Als Antwort auf solche Untersuchungen verfallen die Vertreter der „Bilderschuld“-These auf die Argumentation, daß die Bilder vielleicht keinen Schaden anrichten, sondern selbst schon der Schaden sind, indem sie Frauen zu Objekten machten und sie degradierten. Vordergründig vielleicht eine radikale Kritik der Geschlechterpolitik, steckt dahinter jedoch nichts anderes, als die traditionelle Vorstellung von weiblicher Reinheit und damit eine Doppelmoral, die zwischen „anständigen“ und „unanständigen“ Frauen trennt.
Wer glaubt, daß sexuell eindeutige Bilder oder männliches Begehren per se degradierend für Frauen sind, geht offenbar davon aus, daß Sex per se frauenverachtend ist und anständige Frauen keine sexuelle Attraktion auf Männer ausüben dürfen: nur unanständige Frauen machen Männer an. Das läuft darauf hinaus zu behaupten, Sex sei schlecht für Frauen, weil er aus ihnen schlechte Frauen macht. Pornographie ist dann der bildliche Beweis des weiblichen Sündenfalls.
Das entspricht genau der Ausrede eines Mannes, der seine Frau verprügelt: Sie hat nur gekriegt, was sie verdient. Das Argument entschuldigt den Schläger und verstärkt das Schamgefühl der Frauen, nicht aber ihren Feminismus. Die Vorstellung, daß Pornographie Frauen zu Objekten mache, ist ebenfalls kurios. Es kann ja schlecht damit gemeint sein, daß vor der Erfindung kommerzieller Pornographie kein Mann je eine Frau begehrte. Objekt männlichen Begehrens zu sein, ist nur dann degradierend, wenn das alles ist, was frau ist.
Einige behaupten, daß sexuelle Darstellungen Männern beibringen, Frauen ausschließlich als sexuelle Objekte wahrzunehmen, die man benutzt und wegwirft. Diese Theorie existiert wohl nur in den Köpfen derer, die sie sich ausgedacht haben. Alle Menschen machen – angefangen mit der eigenen Mutter – andauernd intensive und lebendige Erfahrungen mit Frauen, mit ihren Eigenschaften und Fähigkeiten. Es ist absurd anzunehmen, daß zweidimensionale Abbildungen, ob sexueller Natur oder nicht, solche Erfahrungen auslöschen könnten. Jeder Vergewaltiger, der mit dieser Leier kommt, versucht lediglich, die Verantwortung für sein Verhalten der Frau zuzuschieben.
Unterhalb der Ebene der „Bilderschuld“ liegt nur schlecht verhüllt das alte Argument von der „Frauenschuld“. Busengrabscher und Vergewaltiger redeten sich schon immer gerne mit dem Argument heraus, ihr Opfer habe sie „gereizt“. Ein zu kurzer Rock, ein zu tiefer Ausschnitt: Schuld an der Vergewaltigung hat also die Frau. Das funktioniert auch in der „Bilderschuld“-These: wenn es nicht die im engen Pullover war, dann war's eben die aus dem Pornomagazin. Solche Argumente mögen eine lange Tradition haben: erst soll es der Teufel gewesen sein, jetzt ist es eben Fräulein Schmidt. Feministisch ist dieses Denken keinesfalls, und zur Vergewaltigungsprävention taugt es auch nicht.
Es kann nicht Ziel des Feminismus sein, die alltägliche Situation, in der ein heterosexueller Mann eine Frau oder Frauen allgemein sexuell begehrenswert findet, völlig auszuschalten. Im Gegenteil sollte sich Feminismus mit der Ausweitung des Rollenverständnisses für Frauen beschäftigen, einschließlich ihrer Möglichkeiten, selbst Voyeurinnen zu oder sexuelles Subjekt zu werden. Ziel des Feminismus ist, Frauen zur Erkenntnis und zur Verwirklichung ihres eigenen Begehrens zu verhelfen, ohne daß sie gleich mit dem Gefühl des großen Sündenfalls geschlagen werden. Das bedeutet aber, mehr sexuell eindeutige Bilder von und für Frauen verfügbar zu machen – und nicht, sie den Männern zu streichen. Im Laufe der letzten zwei Jahrzehnte haben Männer gelernt, ihr Vergnügen, selbst Objekt der Begierde zu sein, nicht mehr völlig zu verleugnen, und Frauen, ihr Begehren auch zu zeigen. Filmemacherinnen wie Candida Royalle und die Herausgeberinnen von On Our Backs machen, neben vielen anderen, frauenorientierte Pornographie und zu ihren populären Stars zählen VIPs wie Alec Baldwin, Tom Cruise, Rupert Everett und Rob Lowe.
Eines der letzten Argumente gegen die Sexindustrie ist schließlich, daß sie die in ihnen arbeitenden Frauen und Männer ausbeute. Das tut sie natürlich, wie jeder andere Industriezweig auch. Man darf den Ausbeutungsvorwurf nicht auf die Sexindustrie beschränken oder ihn mit sexuellen Schuldgefühlen verwechseln.
Die Frauen und Männer, die in der Sexindustrie arbeiten, sind nicht dumm. Ökonomisch gesehen ist es durchaus sinnvoll, für zwei Tage Mitarbeit in einem Sexfilm 3.000 Dollar zu kassieren, statt zu Niedriglöhnen Toiletten in Bürohäusern zu putzen oder Fleischbällchen bei McDonalds zu wenden. Wer die Sexindustrie abschaffen will, schafft nicht die Ausbeutung von Schauspielern ab, sondern lediglich ihre Ausbeutung als Nackte.
Feministinnen, die mit mißbrauchten Frauen arbeiten, haben auf die physischen Mißhandlungen hingewiesen, denen DarstellerInnen in Pornostreifen bei der Arbeit ausgesetzt sind. Interviews mit den SchauspielerInnen zeigen jedoch, daß sie an diesen Arbeitsplätzen nicht stärker von Gewalt bedroht sind als anderswo. Die meisten Mißhandlungen von Frauen und Kindern finden in der Familie statt, und Candida Royalle berichtet, daß sie nach Jahren als Darstellerin in Sexfilmen erst in ihrem Job als Sekretärin sexuell belästigt wurde. Wenn sexuelle Belästigungen in einem Versicherungsbüro stattfinden, plädiert selten jemand für die Abschaffung von Versicherungen. Genausowenig sollte deswegen sexuell eindeutiges Material abgeschafft werden. Statt dessen sollte überall mit Vehemenz gegen Nötigung und Gewalt vorgegangen werden, wo immer sie auftreten. Der effektivste Weg die physische Unversehrtheit von SexarbeiterInnen zu garantieren, wäre, die Produktion von Sexfilmen und -magazinen zu einem normalen Geschäft zu machen, in dem, von den Hygienevorschriften bis zum Vertrag, die Arbeitsbedingungen gesetzlich geregelt und damit einklagbar sind.
Die Vorstellung, daß Sex Frauen degradiere, ist nicht feministisch sondern frauenfeindlich. Die Anhängerinnen der „Bilderschuld“-These, so radikal sie sich auch fühlen mögen, sind in Wirklichkeit mit fliegenden Fahnen ins Lager ihrer eigenen Unterdrücker übergewechselt.
Bleibt die Frage übrig: Warum fühlt man sich im Recht, wenn man Bilder für Gewalt verantwortlich macht? Warum glauben so viele, daß ihr Verbot ein Patentrezept gegen alle Übel sei? Entscheidend ist, daß der eigene Aktivismus Hoffnung macht. Wohlmeinende Bürger können sich zusammentun,
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kämpfen und siegen, zumindest meinen sie das. Immer mehr US- Bürger fühlen sich ausgeliefert – an Rezession, Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter und zwischen Mehr- und Minderheiten. Die „Anständigkeits“-Bewegungen sind also ein wahrer Segen gerade für diejenigen, die sich gerne dem Gefühl hingeben, ihr Leben voll unter Kontrolle zu haben. Ironischerweise hat moralische Empörung offenbar den gleichen Reiz wie die Phantasien, gegen die sie sich richtet. Phantasie ist ein Pfeiler geistiger Gesundheit. Aber sie kann weder Vergewaltigung noch Inzest noch Sexismus verhindern, und in der Gesetzgebung hat sie nichts zu suchen.
Im Abschlußbericht der „Kommission Obszönität und Pornographie“ des amerikanischen Präsidenten, schrieben Morris Lipton und Edward Greenwood 1970: „Gerne hätten wir Beweise gefunden, die eine Beziehung zwischen Erotika und Verbrechen beziehungsweise antisozialem Verhalten herstellen. Wenn es eine solche Beziehung gäbe, könnten einige unserer drängendsten Probleme recht einfach gelöst werden. Aber (das)... wäre leider nur eine Leugnung der Fakten und eine Täuschung der Öffentlichkeit durch falsche und allzu simple Antworten auf höchst komplexe Fragen.“19
Marcia Pally, Filmkritikerin, Journalistin und Dozentin, ist Autorin von „Sense and Censorship: the Vanity of Bonfires“ in „Americans for Constitutional Freedom“, 1991. Sie hat zusammen mit Nan Levinson diese Reihe zum Thema „Frauen und Zensur in den USA“ in „Index on Censorship“ betreut und ist den LeserInnen der taz außerdem bekannt als Kolumnistin („Short Stories from America“).
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