: Ein Instrument im politischen Kampf
■ Der 30. Januar 1933 wird von Rechts und Links benutzt
Am 30. Januar 1963 hatte die Westberliner Tageszeitung Der Tag eine Vision. Nachdem der Kommentator den Lesern versichert hatte, daß im „freien Teil Deutschlands“ ein zweiter 30. Januar 1933 nicht mehr möglich sei, wandte er sich den „Landsleuten hinter der Elbe“ zu. „Unsere Zukunft“, so heißt es dort recht euphorisch, „wird aber erst ganz unsere Vergangenheit hinter sich gelassen haben, wenn auch unsere Landsleute eine Zukunft sehen können.“
Mit dieser Fehleinschätzung blieb das konservative Blatt nicht allein – noch nach der Vereinigung 1990 hoffte so mancher bundesdeutsche Historiker, die NS-Epoche werde endgültig hinter der neueren deutschen Geschichte verschwinden. Doch das Datum, das den Beginn der schleichenden Machtübernahme durch die Nationalsozialisten signalisiert, ist nach wie vor aktuell.
Wenn am heutigen sechzigsten Jahrestag am Brandenburger Tor gegen den wiedererstarkten Rechtsextremismus demonstriert wird, ist dies nicht nur ein Reflex auf die jüngsten politischen Geschehnisse. Darüber hinaus wird – unabhängig vom Inhalt – eine Tradition fortgesetzt, die seit dem Ende des Krieges in Deutschland ungebrochen währt: Die Instrumentalisierung des 30. Januar 1933 für den jeweiligen politischen Zweck.
Wohl kein Datum spiegelte bis vor wenigen Jahren so sehr den propagandistischen Schlagabtausch zwischen Ost und West wider. Vor allem in den fünfziger Jahren wurde der 30. Januar zu einem „Kampftag“ ganz eigener Art. Während im Westen zumeist jene Politiker zu Wort kamen, die vor der „roten Diktatur“ warnten, schoß sich die DDR ihrerseits auf die von ehemaligen Nazis durchsetzte Adenauer-Regierung ein. Zum Jahrestag 1953 und 1958 starteten die SED und die von ihr kontrollierten Blockparteien jeweils eine propagandistische Medienoffensive. Sprachlich unterschiedlich nuanciert, war der Tenor immer der gleiche: In Westdeutschland stehe der Faschismus kurz vor der Machtübernahme. Unter dem Titel „Die Lehren des 30. Januar 1933“ schrieb etwa das Neue Deutschland 1953: „Die faschistische Gefahr in Westdeutschland äußert sich vielmehr und vor allem in der zunehmenden Faschisierung des Bonner Staatsapparates.“
Und im Westen? Liberale Blätter wie Die Zeit übten sich im Spagat zwischen nationaler Emphase und Aufklärung. 1958 heißt es über einem Foto aus dem ehemaligen KZ Bergen-Belsen in der Hamburger Wochenzeitung: „Furchtbar büßt ein ganzes Volk dafür, daß es einem Verführer erlag, der mit diabolischer List an die besten und schlechtesten Instinkte des Menschen appellierte.“ Immerhin zeigten West-Blätter durchaus selbstkritische Reflektionen zur Machtübernahme – etwa in einer langen Artikelserie der Welt mit einer Betrachtung zum Einfluß der Wirtschaft. Die DDR ließ hingegen kein Mittel aus, um den 30. Januar in die Kontinuität ihrer Geschichtsbetrachtung zu stellen. So verglich 1958 das LDPD-Organ Der Morgen Adenauer mit Hitler, der die „gleichen Ziele“ anstrebe, sich „derselben Methoden“ bediene.
Der 30. Januar 1933 – ein deutsches Datum, offenbar beliebig von Rechts und Links interpretierbar, auch in neuerer Zeit. So zum fünfzigsten Jahrestag 1983: Da verfaßte die IG Druck und Papier gemeinsam mit der DKP einen Aufruf gegen den Nato-Doppelbeschluß. Und CSU-Generalsekretär Edmund Stoiber nahm die Annäherungsversuche der SPD an die Grünen zum Anlaß, die Sozialdemokraten mit Nazis zu vergleichen. Severin Weiland
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