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Ein Lichtermeer mit eigener Dynamik

Etwa 100.000 BerlinerInnen legten am Samstag abend eine „Spur der Erinnerung“  ■ Aus Berlin Anita Kugler

An diesem 30.Januar lodern am Brandenburger Tor keine Fackeln. Nicht eine einzige. Nur Kerzen flackern, Lampions glühen und ab und zu auch eine Wunderkerze. Dem Aufruf von prominenten Berliner Künstlern, nur mit dem „Symbol brennender Kerzen gegen den neu aufflammenden Irrsinn“ anzuleuchten, folgen – nach Polizeiangaben – etwa 100.000 Menschen. Genau an dem Ort, an dem vor 60 Jahren SA- und Stahlhelmformationen marschierten, um die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler zu feiern, wird eine „andere Spur des Lichts“ gelegt, eine, wie die Initatoren sagen, „Spur der Erinnerung und zugleich ein Zeichen der Ermutigung“.

Aber eigentlich ist die geplante „Lichterspur“ zwischen Alexanderplatz und Siegessäule keine „Spur“, sondern ein dichtes Gewimmel. Die Menschen fassen sich nicht – wie ein Organisator es vom Lastwagen aus immer wieder empfiehlt – an den Händen, um eine durchgehende Kette zu bilden, sondern laufen dorthin, wohin sie wollen: zu den Video-Leinwänden, an denen Ausschnitte aus Michail Romms Klassiker „Der gewöhnliche Faschismus“ gezeigt werden, oder zu den Lastwagen, an denen Schauspieler Texte gegen die Unmenschlichkeit lesen. Das Ergebnis dieses gut gemeinten, aber überinszenierten Rahmenprogramms ist, daß es um das Tor herum zu einem wahren Kerzenmeer kommt und die jeweiligen Enden im dunklen bleiben. „Ich mag mich nicht organisieren lassen“, sagt Arnold Munter, 81 Jahre und Mitglied im Bund der Naziverfolgten, mit einer Kerze in der Hand, „schon gar nicht an diesem Tag“. An die Ereignisse vor 60 Jahren erinnert er sich noch gut. Seine Familie lebte, nur wenige Kilometer vom Brandenburger Tor entfernt, im „ostjüdischen Kiez“ Scheunenviertel. „Damals hatten wir solche Angst, daß wir uns tagelang nicht aus dem Haus trauten“. Später wurden Vater und Schwester im Konzentrationslager ermordet, Arnold Munter selbst erlebte die Befreiung durch die Rote Armee in Theresienstadt, abgemagert bis zum Skelett und tuberkulosekrank. „Wir sind verpflichtet, alles zu tun, damit es nie wieder so wird, wie es einmal war“, sagt er.

Auch die von den Künstlern geplante „Dunkelheit“, punkt 18Uhr, wird nicht so, wie vorher ausgedacht. Lichterdemonstrationen haben ihre eigene Dynamik. Zwar erlöschen für fünf Minuten die Strahler, die die Symbole Berlins: das Brandenburger Tor, die Siegessäule, den Berliner Dom und die Marienkirche ins rechte Licht zu setzen pflegen. Aber Peitschenlampen erhellen weiterhin die Straßen, und die privaten Kerzen werden nur unwillig ausgeblasen. Und auch nur die am Tor. Statt Trauerminuten – „gedenkend der Opfer von damals und heute“ (Flugblatt der Initiatoren) – wird zwischen Friedrichstraße und Unter den Linden viel Glühwein gegen die Eiseskälte getrunken, die Kerzen werden zwischen die Gitter des GUS-Konsulats festgewachst. Auffällig viele nicht-deutsche Berliner sind daran beteiligt, ganze türkische Jugendgruppen scheinen sich hier verabredet zu haben. Ganz anders die Atmosphäre zwischen dem Tor und dem Sowjetischen Ehrenmal für die Gefallenen des Krieges, an der Straße des 17. Juni. Hier, wo links und rechts nur Bäume sind, versammeln sich vor allem ältere Menschen. Hier ist viel Ernst zu spüren und die Bereitschaft, miteinander ins Gespräch zu kommen. „Erst war ich im KZ und später wegen sozialdemokratischer Propaganda in Bautzen“, erzählt ein alter Mann. Und trotzdem stellt er – genau wie sehr viele andere – ein Licht vor das Ehrenmal. Sie werden später noch stundenlang brennen.

Die von Studenten der Kunsthochschule mit 5.000 Teelichtern gebildete Mahnschrift vor dem Brandenburger Tor: „Nie wieder“, ist später nur im Fernsehen eindrucksvoll zu sehen. Denn um diese Schrift drängen sich rücksichtlos die Kamerateams aus aller Welt, und besonders lästig dicht und laut fliegen die Filmhubschrauber darüber hinweg. „Ich finde es blöd, daß Lichterketten so fotogen sind“, sagt eine türkische Berlinerin, „aber sie müssen trotzdem sein. Das bringt Hoffnung.“

Demonstrationen auch in Rostock und andernorts

Mehrere hunderttausend Menschen haben am Samstag abend zum 60.Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme in vielen deutschen Städten gegen Rassismus und Fremdenhaß demonstriert. In Düsseldorf beteiligten sich 120.000 an einer Lichterkette. In Köln, Castrop-Rauxel, Rheine und Dortmund nahmen jeweils Tausende an Aktionen teil.

Bundespräsident von Weizsäcker nahm in Rostock als „Privatperson“ bei einer Lichterkette von mehr als 20.000 Menschen teil. Die Demonstration zog sich über 15 Kilometer vom Marktplatz bis zum Stadtteil Lichtenhagen, wo im August Rechtsradikale ein Asylbewerberheim angesteckt hatten. Weizsäcker sagte: „Lichterketten sind kein Ersatz für Politik, aber Lichterketten sind ein Zeichen des Engagements.“ In Regensburg schlossen sich 4.000 Menschen einem Schweigemarsch an. Auch in Nürnberg und Augsburg gab es friedliche Aktionen. Nach Polizeiangaben demonstrierten in München etwa 2.000 Bürger. In Erfurt folgten rund 1.000 Menschen einem Aufruf des DGB. Vor dem Gewerkschaftsgebäude wurde eine Gedenktafel für die 18 Opfer rechtsradikaler Gewalt in den Jahren 1992 und 1993 enthüllt. In Potsdam demonstrierten rund 300 Menschen. Im Anschluß kam es zu einer gewalttätigen Auseinandersetzung zwischen rund 150 Autonomen und der Polizei. Zu Störungen der Lichterketten gegen Ausländerhaß kam es am Sonnabend in Finsterwalde und Spremberg. Bei der Kundgebung in Spremberg mit 300 Teilnehmern kam es zu einer Schlägerei zwischen einigen Jugendlichen. ap/dpa

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