Maß und Gleichgewicht

■ Wie aus der Zeit herausgefallen: Philippe Jaccottets „Landschaft mit abwesenden Figuren“

Denkt man bei Philippe Jaccottets poetischen Spaziergängen und meditativen Betrachtungen an Giacomettis dünn aufragende Plastiken, so deshalb, weil seine Helden „vor lauter Winzigkeit kaum ausfindig zu machen sind“. Figuren gibt es nur am Rande, und die Ereignislosigkeit dieser Prosa macht, daß Jaccottet selbst zum paradoxen Helden wird. Ein „Hiesiger“, der beharrlich aushält, während das ungetrübte Bewußtsein der Endlichkeit ihm eine wachsende Schwäche auferlegt.

Jaccottets „Landschaft mit abwesenden Figuren“, übersetzt von Friedhelm Kemp, versammelt Texte aus den Jahren 1970 und 1975. Erst seit der Verleihung des Petrarca-Preises an Jaccottet 1988 ist mit der Wiederauflage seiner Schriften in Deutschland jetzt begonnen worden.

Jaccottet spricht von der Schweiz als seinem Vaterland, und dennoch schreibt er kaum darüber. 1925 wurde er im Kanton Waadt in Moudon geboren. In den Fünfzigern siedelte er über in das südfranzösische Grignan. Der Ort liegt in der Drôme, inmitten einer Landschaft, die er ihrer Helle, ihrer Spröde und Einfachheit wegen liebt, mehr noch als das mit so viel Antike befrachtete Griechenland oder Italien. Wo ein simpler Strauch, eine Morgendämmerung noch Manifestation ihrer selbst sind, da reichen Bilder und Worte allenfalls, das Unzulängliche, im besten Falle den Abstand und die Fremdheit zu ermessen. „... wenn ich wie ein Jäger mich auf die Lauer legen wollte am Rande dieses Waldes, ich sähe nichts mehr, ganz in meiner Aufmerksamkeit gefangen.“ Eine bescheidene Sprache sollte deshalb „die Dinge nur sagen, sie nur erscheinen lassen“ – auf eine schlichte, vielleicht auch einfältige Weise.

Solche Landschaften sind wie „Steine und Flüsse, wie jedes andere Ding der Welt“, „ernst und groß“. Jaccottets Wanderungen und Erkundungen verharren auf der Schwelle. Die Phänomene bleiben undeutlich. An dem Mandelbaumgarten oder dem Kornfeld leitet ihn nicht das Interesse des Botanikers, an dem Boden nicht das des Geologen oder Archäologen. Er ist kein Sammler, der etwas aufbewahren möchte gegen das Vergessen. Vor dem Argwohn verschont er auch nicht die liebgewordenen Erinnerungen, weil auch die sich erneuern müssen. „Mißtraue den Bildern. Mißtraue den Blumen. Leicht wie die Worte. Und ich bilde mir nicht mehr ein, ich würde, mit Hilfe solcher Schlüssel, wie im Märchen, vor mir eine um die andere sämtliche Türen aufgehen sehen – um zuletzt, heil und unangefochten, den Garten zu erreichen, dessen Alleen man am Ende des dunklen Ganges leuchten sieht.“

Glücklich sein, das traut sich Jaccottet erst gar nicht zu. Die „Daseinsfreude“ ist eher etwas, was sich aus den Stimmen der Vögel im Geäst eines Baumes vernehmen läßt. Wenn er die Schönheit schaut, wofür er sich, wie manch anderer Dichter vor ihm, einmal mehr vor der häßlichen Fratze der Welt rechtfertigen zu müssen glaubt, ahnt er aber, daß Schönheit immer Elend und Anmut vereint, ein Prinzip der Vermittlung und Versöhnung, eine Mitte darstellt. Dabei liegt etwas Unheimliches und Gefährliches darin. Wie die Liebe führt auch die Schönheit den Januskopf vor: Zauber und Schrecken.

Wirklichkeit will Jaccottet nur in diesem untrennbaren Zugleich begreifen. An diesem Prisma des Widersprüchlichen reibt er sich. In seinen, trotz allem, glücklichsten und zufälligsten Momenten ist es – Innigkeit: sich an einen Ort, in seinen Farben, Gewichten und Proportionen zu verlieren. Harmonie? Eher Maß und Gleichgewicht. Weder Romantiker noch Pantheist, zaubert er keine Antlitze in das Anwesende, das dennoch wie von einem namenlosen Gott beseelt „empfangen“ werden kann.

Jaccottet ist ein Liebender und darin ein Held. Intuitiv arbeitet in ihm die Liebe an der Versöhnung ihrer naturwüchsigen Widersprüchlichkeit, an dem Auseinanderklaffen der Bedeutungen, dem ewig Fremden. Wer dieses Paradoxon aushält, sucht keine Flucht, sondern Erlösung. Denn: „Die Schönheit ist ebenso unbegreiflich wie der Schmerz, und darum ebenso wirklich, darum ebenso stark und notwendig.“ Schon früher, in den „Elementen eines Traums“, fragte Jaccottet: „Warum ermüden wir?“ Als ein „Zauderer, ein Geteilter“ wartet er zu, bis ihm das Leben allmählich aus der Hand gleitet, wie er sich verbraucht und abmüht im Kampf um einen Ausdruck der Offenheit: Oft sagt er, was nicht ist, um dann zu sagen, was es vielleicht ist, und reiht das Mögliche aneinander. All diese Umwege beschreibend, sich an den Irrtümern des Liebenden und dem Wahn des Philosophen stoßend, um dann auf diesen kleinen Augenblick zu hoffen, wo alle Angst, alle Eigenart des Zitterns und der Unruhe aussetzen, als ob man aus der Zeit und allen Gefährdungen herausgefallen sei. Florian Bungart

Philippe Jaccottet: „Landschaft mit abwesenden Figuren“. Aus dem Französischen von Friedhelm Kemp. Klett-Cotta Verlag 1992, 160 Seiten, gebunden, 32 DM