: „Auch mal in die Gaskammer gucken!“
Über 700 Berliner Jugendliche gedachten in der Gedenkstätte Auschwitz des 60. Jahrestags der Machtergreifung/ „Handeln gegen Rechtsradikale und Ausländerfeinde“ ■ Aus Oświecim Corinna Raupach
Als das Straßenschild von Oświecim durch die in die Eisblumen gekratzen Gucklöcher zu erkennen ist, scheint es noch kälter zu werden im Bus. Die Madonnengestalt im Vorgarten des ersten Hauses, eines geduckten Gebäudes aus rotem Backstein, trägt ein blaues Kleid. Um ihren Hals hat jemand eine Blumenkette gehängt. Vorbei geht es an Industrieanlagen und dem neuen Bahnhof. Vereinzelte Bäume strecken ihre kahlen Äste in die schneidend kalte Luft.
47 Jugendliche kuscheln sich aneinander, ihr Atem bildet weiße Wölkchen vor den übernächtigten Gesichtern. Kaum jemand lauscht den geschichtlichen Ausführungen des polnischen Reiseleiters, dessen zerfurchtes Gesicht mit dem dunklen Brauen über der starken Nase so stolz wie verschmitzt erscheint. Auf der eineinhalbstündigen Fahrt von Krakau aus haben einige geschlafen, andere schmusen oder erzählen, bis der Bus vor dem ehemaligen Stammlager hält.
708 Jugendliche aus Berlin nehmen an der von den Falken organisierten Fahrt in die Gedenkstätte Auschwitz teil. Gestandene Falken im Blauhemd versammelten sich am Abend genauso im Bahnhof Berlin- Lichtenberg wie junge Männer mit piratenhaft um den Kopf geschlungenem totenkopfgeziertem Kopftuch, 15jährige Freundinnen mit dicken Reisetaschen und langhaarige Gymnasiasten aus Schöneberg.
Die 14jährige Mai aus Wilmersdorf wollte nach dem Besuch eines Zeitzeugen in ihrer Klasse das, wovon er erzählt hatte, mal wirklich sehen. Ihre Freundin Jenny stimmt zu. „Auch wegen der Welle von rechts muß man sich das vergegenwärtigen.“ Die Vergangenheit müsse allen vor Augen gehalten werden, damit so etwas nicht wieder passiert, findet Kalle, der mit einer Gruppe der Sophie-Scholl- Schule hier ist. Timo wollte über Lichterketten und Alibiveranstaltungen hinaus aktiv werden. „Für Ausländer und gegen Rechtsradikale sein heißt handeln.“
Der zunächst vorgeführte Film aus dokumentarischem Material zeigt bekannte Bilder – Menschen, die zu Skeletten abgemagert aus dunklen Augenhöhlen in die Kamera starren, wie aufgezogen auf stacheldrahtgesäumten Wegen dahintrippeln, Soldaten der Roten Armee vor Leichenbergen in Massengräbern, Ärzte, die sich der durch medizinische Versuche Verstümmelten annehmen. Die Stille im Raum wird nur durch vereinzeltes Naseputzen unterbrochen. „Oh Gott“, entfährt es Mai, als sie in das Gesicht eines 42jährigen Greises blickt. „Ich kannte solche Bilder, aber zu wissen, das war hier, ist etwas ganz anderes“, sagt sie später.
Die 47 Jugendlichen aus dem Bus sind sehr still, als sie durch das berüchtigte Tor in den Kernbereich der einstmaligen Kaserne gehen. „Arbeit macht frei“ – der Wiedererkennungseffekt läßt Mai und Jenny erschauern. Die roten Backsteingebäude, säuberlich in zwei Reihen gebaut, machen gar keinen unsoliden Eindruck – bis die Gruppenleiterin, eine zierliche Frau mit rötlichem Haar, erklärt, daß bis zu 600 Menschen darin hausen mußten.
Im Block vier drängen sich schon andere Busgruppen. Während der Schweigeminute vor der Urne mit Menschenasche vom Gelände des Lagers strömt eine Gruppe gerade hinaus. Die Stimmen der Leiter vermischen sich. Wer hinten steht, hat Pech, versteht kaum etwas. Weitere Jugendliche füllen den Block, Eile ist geboten. Die Schaukästen mit Seiten aus dem Totenbuch, mit ZyklonB- Büchsen, das Modell von Gaskammer und Krematorium müssen so zügig zur Kenntnis genommen werden wie die Fotografien an den Wänden. Ein SS-Mann nahm 1944 die Vernichtungsaktion der ungarischen Juden in Birkenau auf.
Irgendwann ist nicht mehr klar, ob die zunehmende Erstarrung dem Entsetzen oder der Kälte geschuldet ist. In den Räumen herrschen minus fünf Grad. Immer wieder schmiegt sich jemand an die teilweise eingebauten Kachelöfen, nur um um so entsetzter zurückzufahren. Sie sind so eisig wie der Raum – Polen hat kein Geld, sie zu beheizen oder gar ein vernünftiges Heizsystem zu installieren. Hastig drängen die Jugendlichen an lehmfarbenen Schuh- und Prothesenbergen, verstaubten Brillen und Rasierpinseln vorbei, um die die SS noch die Toten beraubte. Auf den Koffern, auf denen in weißen Lettern Name und Herkunftsort der Opfer steht, suchen sie nach Anknüpfungspunkten. Wer war Emma Sara Strohmann aus Rheydt? Warum traf es die Krankenschwester aus Den Haag, was wurde aus dem holländischen Waisenkind? Und weiter, die hinten beschweren sich schon.
Mitten im Vorbeimarsch durchfährt die Gruppe ein Ruck, ein ungläubiges Aufstöhnen, als sie vor 7.000 Kilo Frauenhaaren steht. Die verfilzten Haare haben fast die gleiche staubig- braune Farbe wie die Schuhberge. Nur einige Strähnen und Zöpfe leuchten weizenblond. Diese Haare, aus denen meist wärmedämmendes Gewebe für Futterstoffe hergestellt wurde, konnten die Henker nicht mehr rechtzeitig an die Industrie verkaufen. Die winzigen Hemdchen und Pullover im selben Raum sind mottenzerfressen. „Ich will mir jetzt einfach nicht vorstellen, für welche Kinder die gedacht waren“, murmelt ein Mädchen verzweifelt.
Wieder im Freien, vor der Todesmauer mit den Einschußlöchern der Hinrichtungskommandos, versuchen es einige damit, auf der Stelle zu laufen. „Meine Füße tun schon weh, trotz der dicken Schuhe und dem doppelten Paar Wollsocken“, jammert ein Mädchen, und erschrickt: das Bild des Mädchens mit den erfrorenen Füßen aus dem Film kommt ihm in den Sinn. Es mußte zwei Tage als Strafe barfuß im Freien stehen. Andere greifen zur inwendigen Kalorienzufuhr und packen ihre Schokolade aus. „Das ist ein Friedhof!“ tadelt die Mitarbeiterin der Gedenkstätte.
Das Gestapogefängnis auf dem Gelände sowie die Gaskammer und das Krematorium sind überfüllt. „Weiter, wir wollen auch in die Gaskammer gucken“, heißt es, sobald jemand innehält. „Laß mich vorbei, ich will die Stehzellen sehen!“ „Wo ist der Galgen?“ Die Zellen im Keller, die alle gleich aussehen, sind leer.
Nach zwei Stunden Stammlager reicht die Mittagspause nicht einmal zum Warmwerden. Nur wer rechtzeitig ansteht, bekommt in der Cafeteria einen heißen Tee. Hier gibt es Postkarten – mit Stacheldraht vor Sonnenuntergang, Birkenau im Nebel und zarten Licht der aufgehenden Sonne, mit der Grube, in die die Asche der Verbrannten geschüttet wurde, als verschneitem Waldsee.
Nach einem hastig im Bus verschlungenen Lunchpaket geht es nach Birkenau. Die Busse kommen fast gleichzeitig an. In dem Durcheinander verteilen Falken rote Rosen, Nelken und Grablichter für die geplante Gedenkfeier. Der Pulk drängt durch das Eingangstor und steht auf der Rampe. Auf diesem endlos langen Bahnsteig wurde selektiert zwischen denen, die noch arbeitsfähig waren, und denen, die gleich den Weg in die Gaskammern zu nehmen hatten. Daneben, so weit das Auge reicht, Baracken und Schornsteinreste. „Hier wird klar, was der Begriff Lager meint“, sagt Politiklehrer Bodo Förster. „Die Menschen haben hier nicht gewohnt, die wurden abgelagert.“ Fassungslos starren einige nach rechts und links, während andere sich über ein- und zweieiige Zwillinge unterhalten.
Vor den vier wuchtigen Quadern des Mahnmals zur Ehre der Opfer bilden die Falken mit Fahnen einen Halbkreis. Die Redebeiträge mahnen zu Erinnerung. Es dürfe nicht noch einmal heißen, es seien nur Befehle befolgt worden. Otto Rosenberg, ehemaliger Häftling in Auschwitz, hat die Qualen nicht vergessen und nicht das Gefühl, ständig bedroht, ausgeliefert, recht- und schutzlos zu sein. „Wir wissen, daß Ausgrenzung, Entrechtung und Diskriminierung die ersten Schritte sind zur Endlösung“, sagt er in Anspielung auf die Änderung des Artikels 16. Einige Jugendliche frieren nur noch ergeben vor sich hin, andere sind ergriffen von den vorgetragenen Liedern. „Sog nischt keinmol, daß du gehst den letzten Weg.“
Für Sonntag ist eine Podiumsdiskussion in einem Hörsaal der Krakauer Universität anberaumt. Die SPD-Politikerinnen Angelika Barbe, Petra Merkel und Monika Höppner, Falke Thorsten Puhs und der ehemalige Häftling Adam König harren der Fragen. „Das Bundestagsmitglied soll Stellung nehmen zum Thema Asyl!“ Angelika Barbe beginnt mit einer umständlichen Erläuterung zur Entwicklung der Asylrechtsänderung innerhalb ihrer Partei. „Lüge!“ tönt es aus dem Publikum. „Was denken Sie persönlich dazu?“ Auf Barbes anschließende Schilderung ihres Werdegangs in der Bürgerrechtsbewegung in der DDR – „Ich habe mich immer als Anwältin derer verstanden, die 40 Jahre unter der Diktatur der DDR gelitten haben“ – packen einige demonstrativ ihre Sachen. „Wir wollen hier keinen Wahlkampf!“ Frau Barbe bricht in Tränen aus.
Andere wollen wissen, was die Bundesregierung und die Industrie für die Erhaltung der Gedenkstätte auszugeben bereit sind. Adam König soll sagen, wie er jahrelang in Auschwitz überleben konnte, obwohl die durchschnittliche Lebensdauer bei drei Monaten lag. Während er von seltenen Akten der Mitmenschlichkeit erzählt, von dem kläglichen Versuch, die eigene Würde zu wahren, von unmöglichen Freundschaften und Sketchabenden, könnte man eine Stecknadel fallen hören. „Nicht zuletzt war ich sehr jung, gerade 16 Jahre, und sehr sportlich.“
Auf der Rückfahrt im Sonderzug ist die Stimmung durchwachsen. Es war zu voll und zu hektisch, meinen die meisten. „Ich konnte irgendwann nichts mehr aufnehmen“, sagt Jenny. Kalle hat schon befürchtet, daß es auf so einer Massenveranstaltung nur zum Durchhetzen reichen würde. „Wenn uns zum Heulen zumute war, wurden um uns herum Witze gerissen.“
Die 16jährige Maria spricht aus, was viele denken: „Ich kam mir richtig schlecht vor, weil es mir nicht nähergegangen ist.“ Sie hätte nie Zeit gehabt, sich wirklich auf einen Ort einzulassen. Beeindruckt hat sie Adam König, mit dem sie sich im Zug noch einmal unterhalten haben. „Was ich eigentlich wissen wollte, habe ich mich nicht getraut zu fragen. Wie es wirklich war in den Waggons, zum Beispiel.“
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