■ Kann Jelzins Reformwerk fortgesetzt werden?
: Nichts außer Boris

Die führende französische „Sowjetologin“ und Verfasserin des prophetischen Werks: „L'Empire éclaté“, Hélène Carrère D'Encausse, im Gespräch. Das Interview mit dem Mitglied der „Académie française“ führte Gabriele Invernizzi. Es erschien in der italienischen Zeitschrift „L'Espresso“.

Frage: Wie sehen Sie die Zukunft Rußlands, und wohin treibt das Land?

Hélène Carrère D'Encausse: 1993 wird für Rußland ein entscheidendes Jahr sein. Am 11. April wird es ein Verfassungsreferendum geben. Es geht nicht nur darum, daß die russische Gesellschaft zum erstenmal aufgerufen wird, frei darüber zu entscheiden, ob sie eine Präsidialrepublik oder eine parlamentarische Republik will. Es geht beim Referendum auch um einen hohen politischen Einsatz. Boris Jelzin hat sich mit dem Präsidialmodell identifiziert, und wenn er damit durchkommt, wird er sein Mandat bis 1996 mit einer absoluten Autorität wahrnehmen können. Aber auch wenn das Referendum anders ausgeht, wird es aufgrund der neuen Verfassung Wahlen geben müssen, die der Herrschaft des jetzigen konservativen Parlaments, das die russische Gesellschaft nicht mehr repräsentiert, ein Ende setzen.

Sie sehen keinerlei Hindernisse für die Verwirklichung dieses Programms?

Doch, eines. Den Winter. Wichtig wird sein, daß dieser Winter nicht zu dramatisch verläuft. Sagen wir, nicht dramatischer als der letzte. Die letzten Umfragen unterstreichen diese günstige Prognose: trotz allem setzen über 50 Prozent der Befragten weiterhin ihr Vertrauen in Jelzin. Mehr noch: 54 Prozent machen das vergangene kommunistische Regime für die jetzige Lage verantwortlich.

Sie scheinen den Konzessionen keine Bedeutung zuzumessen, die Jelzin an die Konservativen machen mußte: von der Entlassung des Reformpremiers Gaidar bis zur Ernennung des neuen Premiers Tschernomyrdin, der als Werkzeug der Konservativen gilt?

Ich möchte daran erinnern, daß Jelzin Gaidar jetzt zu seinem persönlichen Berater für ökonomische Fragen gemacht hat. Das beweist, daß die Unterbrechung der Reformlinie nicht gar so dramatisch ist. Jelzin bleibt schließlich der Präsident, der aufgrund allgemeiner und direkter Wahlen ins Amt gekommen ist, während sein Premier vom Parlament ernannt wurde. Die Befugnisse des Präsidenten sind unendlich viel wichtiger als die seines Premiers, und man darf nicht vergessen, daß Jelzin diese Befugnisse dadurch rettete, daß er Gaidar preisgab. Was Tschernomyrdin anlangt, so scheint es mir verfrüht, Voraussagen über seinen politischen Kurs zu machen

Fest steht doch, daß er ein Mann des militärisch-industriellen Komplexes bleibt..

Das ist eine Formel, der wir besser mißtrauen sollten. Von Gaidar sagte man, daß er ein Reformer sei, aber tatsächlich hat er auf dem Gebiet der Reformen wenig erreicht. Tschernomyrdin gilt als Konservativer, aber er hat sich bereits für die Freigabe der Energiepreise geschlagen, eine Schlacht, die Gaidar nicht zu schlagen wagte und deren positives Ergebnis nicht im Interesse des militärisch-industriellen Komplexes liegt. Für mich könnte sich Tschernomyrdin als ein Politiker erweisen, der sehr wohl in der Lage ist, den Reformprozeß voranzutreiben. Darauf zu bestehen, daß Tschernomyrdin nur ein Werkzeug der Konservativen ist, bedeutet nur, das Ausmaß politischer Differenzierung zu leugnen, das in Rußland heute sichtbar ist, und die Tatsache unterzubewerten, daß Jelzin über hinreichende Macht verfügt, um nicht vom Parlament bzw. vom Ausgang des April-Referendums blockiert zu werden.

Und nach dem April 93?

Jelzin wird mit seinem ganzen politischen Gewicht weiter dominieren. Er wird der Mann des Jahres 1993 sein. Sein triumphaler Wahlsieg liegt erst eineinhalb Jahre zurück, und das Land vertraut ihm. Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, daß das Referendum das Projekt der Präsidialverfassung zurückweisen und eine rein parlamentarische Republik installieren wird, wird kein Mensch ihn zwingen können zu gehen. Er wird die nötige Autorität haben, weiterzumachen, mit welchem Premier auch immer.

Außer es gibt einen Staatsstreich ...

Niemand will wirklich einen Putsch, und es gibt auch keine bewaffneten Kräfte, die ihn durchführen könnten. Jeder Versuch dieser Art würde nur das Ausmaß der Autonomisierung in der Russischen Föderation erweisen. Denn die Regionen sind heute wirtschaftlich und politisch so stark, daß sich ein Militärputsch an jedem demokratisch regierten Gouverneurssitz, an jeder Präfektur brechen würde. Wenn Sie wüßten, wie oft mir in der Provinz gesagt wurde: „Was immer auch in Moskau passiert, für mich zählt das nichts.“

Werden in der Gesellschaft neue Kräfte auftauchen?

Eine neue Unternehmerschicht existiert bereits, ist aber nicht sehr stark. Junge Leute haben kleine Firmen gegründet, das Bank- und Börsengeschäft ist angelaufen. All das spielt außerhalb Moskaus eine größere Rolle als in der Hauptstadt. Denn dort sind die Gewichte des alten Systems noch drückend und behindern die Schubkraft der Erneuerung. Fern von der Zentrale jedoch, in Gebieten wie Nischni-Nowgorod, Wladimir oder Sachalin, wo die Privatisierung erfolgreich durchgeführt wurde, marschiert die politische und wirtschaftliche Erneuerung. Und wir haben heute 25.000 Bauern, die Eigentümer ihres Grund und Bodens sind. Das sind Bereiche, in denen Geld zirkuliert und der Markt funktioniert.

Und die alte Macht? Nach dem Urteilsspruch des Verfassungsgerichts bleiben die Basisorganisationen der Kommunistischen Partei legal. Was geschieht, wenn der alten KP wieder ein Kopf nachwächst?

Das wird nicht eintreten. Die Überlebenden des alten Apparats versuchen ohne Ausnahme, im neuen System einen Platz zu finden. Ich denke, das war das wichtigste Ergebnis der Regierung Gaidar. Sie konnte die Reformen nicht zu einem guten Ende führen, aber es gelang ihr, das alte Räderwerk auseinanderzunehmen. Sie hat es nicht geschafft, die alten Komplexe industrieller Macht zu zerstören, aber sie hat ihren Stromkreis unterbrochen. Auf diesem Feld gibt es kein Zurück mehr.

In Ihrer Vorausschau für 1993 haben Sie die auswärtigen Faktoren nicht in Betracht gezogen, die das Schicksal Rußlands beeinflussen könnten.

Die Hilfe der internationalen Gemeinschaft wird entscheidend sein. Die von Kohl unterschriebenen Verträge beweisen, daß Deutschland an einer Stabilisierung der Situation in Rußland interessiert ist. Auch in den USA wächst das Bewußtsein über die Notwendigkeit der Hilfe. Daß man Rußland nicht in die Katastrophe abrutschen lassen soll, gehört zu Bushs Testament an Clinton. Aber jede internationale Hilfe setzt voraus, daß Rußland auf dem Weg der Reformen bleibt. Diese Tatsache wird den Spielraum der Konservativen entscheidend einengen.