: Jeder zwanzigste mußte den Hut nehmen
Eine gigantische Stasi-Überprüfungswelle überrollt den öffentlichen Dienst/ 384 Beschäftigte mußten bislang aufgrund von Erkenntnissen der Gauck-Behörde aus dem Dienst ausscheiden ■ Von Dieter Rulff
Berlin. Sieht man von so medienwirksamen Einzelfällen wie zuletzt Heiner Müller und Christa Wolf ab, so vollzieht sich die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit mittlerweile in aller Stille, aber auch in aller Unausweichbarkeit vor allem in den Amtsstuben der Behörden. Eine gigantische Überprüfungswelle überrollt seit bald zwei Jahren den öffentlichen Dienst Berlins, ein Ende ist noch nicht absehbar. Bis jetzt haben in einem ersten Prüfgang 134.587 Beschäftigte einen Fragebogen ausgefüllt, in dem sie unter anderem Auskunft über eine etwaige Mitarbeit bei der Stasi geben mußten.
Die Selbstauskünfte auf diese Anfragen bieten nach Einschätzung von Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) „keine hinreichende Sicherheit“, eine Überprüfung bei der Gauck-Behörde scheint ihm von daher zwingend geboten. Die bisherigen Ergebnisse der zweiten Überprüfungswelle geben ihm recht. Bislang wurden insgesamt 32.014 Anfragen an den Bundesbeauftragten für die Unterlagen des MfS gestellt, sie betreffen vor allem die Beschäftigtengruppen der Polizei sowie der Lehrer und Erzieher. Die Zahl der Anfragen wird sich noch erhöhen, denn erst im Dezember 1992 beschloß der Senat die generelle Gauckung von Ostberliner Mitarbeitern des höheren Dienstes sowie des gehobenen Dienstes, sofern diese in sicherheitsrelevanten Bereichen oder im Personalwesen beschäftigt sind.
Von den 8.206 ehemaligen Volkspolizisten, die für eine Übernahme überprüft wurden, erhielt etwa jeder zehnte eine Kündigung. Bei der Polizei wurde folglich stärker gesiebt als im übrigen öffentlichen Dienst, denn dort führten die Antworten der Gauck-Behörde nur in jedem zwanzigsten Fall zu einer Entlassung. 7.677 Bescheide liegen bislang vor, in 5.692 Fällen ergab die Überprüfung nichts Belastendes, bei 384 Beschäftigen führte sie zu einer Kündigung. 87 Bedienstete gingen, bevor der Gauck-Bescheid eintraf.
In den Bezirksämtern Ostberlins trudeln zur Zeit die Auskünfte des Bundesbeauftragten über die dort beschäftigten Lehrer und Erzieher ein. Der Köpenicker Bildungsstadtrat Hans-Joachim Munte (SPD) rechnet damit, daß auch von den Pädagogen 10 bis 15 Prozent aufgrund eines negativen Bescheides gehen müssen. Seiner Einschätzung nach hatte das MfS in jeder Schule mindestens zwei bis drei Informanten sitzen, die in der Regel nichts voneinander wußten. Er stützt sich bei dieser Einschätzung auf Erfahrungen, die er bereits früher mit Gauck-Auskünften gemacht hat. Bislang ist diese Quote noch keineswegs erreicht. Zudem scheint der Belastungsgrad von Bezirk zu Bezirk zu variieren. So sind in Köpenick, nachdem von 1.800 Pädagogen 1.380 überprüft sind, 20 Kündigungen ausgesprochen worden, in Hellersdorf waren es, nachdem 80 Prozent der 2.000 Lehrer und Erzieher „gegauckt“ waren, lediglich vier Entlassungen. In Lichtenberg und Marzahn mußte bislang noch keiner gehen, allerdings liegen in diesen Bezirken erst unvollständige Ergebnisse vor. Munte rechnet damit, daß das dicke Ende erst noch kommt, da erfahrungsgemäß die belastenden Auskünfte eine längere Bearbeitungszeit erfordern.
Die generelle Pädagogen- Gauckung war von den Ostberliner Bildungsstadträten im letzten Frühjahr beschlossen worden. Die Überprüfung wird von einheitlich besetzten Personalkommissionen der Bezirke durchgeführt, ihr Ergebnis allerdings recht unterschiedlich beurteilt. Dem Hellersdorfer Bildungsstadtrat Peter Winkler (PDS) ist die Vorgehensweise gegen die Ex-Stasi-Mitarbeiter zu schematisch, er fragt sich, ob das noch mit der Menschenwürde der Betroffenen vereinbar ist. Für seinen Lichtenberger Amtskollegen Jürgen Bergmann (SPD) ist hingegen klar: „Wer bei der Stasi gewesen ist, hat bei der Erziehung nichts zu suchen.“ Er bemängelt gar, daß die Arbeitsrichter in den Kündigungsverfahren allzu häufig Nachsicht mit den Betroffenen haben und führt das auf deren zumeist westliche Sichtweise zurück.
Den Eltern und Schülern an den betroffenen Schulen scheint die „Gauckung“ kein Herzensanliegen zu sein. Es herrscht, nach Einschätzung der Friedrichshainer Bildungsstadträtin Marianne Tietze (Bündnis Friedrichshain), generell eher Desinteresse vor. Weder sie noch ihre Kollegen wußten zu berichten, daß von der Basis Druck auf die entscheidenden Instanzen ausgeübt wurde. War es doch der Fall, so zielte die Pression in die entgegengesetzte Richtung. So wußte Winkel von einem Lehrer zu berichten, dem wegen hauptamtlicher Tätigkeit für das MfS gekündigt worden war. Seine Schüler wollten ihn trotz der Belastung behalten, und auch die Elternvertretung habe sich für einen Verbleib an der Schule ausgesprochen. Allerdings, bedauerte Winkel, habe er keine Möglichkeit, den Pädagogen wieder einzustellen. Ähnliche Einzelfälle werden auch aus anderen Bezirken berichtet. Bei einer Entlassung, so referiert Munte die generelle Linie, ist es völlig unerheblich, ob der wegen Stasi-Mitarbeit Belastete ein guter oder schlechter Lehrer ist.
Diese Vorgaben der Innenverwaltung für die Einstellungspraxis waren wegen ihrer vermeintlichen Schärfe häufig kritisiert worden. Doch zeigt der Vergleich mit Brandenburg, daß die Überprüfung der Lehrer dort zu einem dem Berliner Resultat durchaus vergleichbaren vorläufigen Ergebnis geführt hat. Bei 8.400 der insgesamt 36.000 Lehrer im Nachbarland legte die Gauck-Behörde bislang Bescheide vor. In 51 Fällen führten sie zur Kündigung. Allerdings hatte es schon zuvor Entlassungen wegen Angaben im Personalfragebogen gegeben. Insgesamt hat innerhalb der letzten beiden Jahre jeder sechste der ursprünglich 36.000 brandenburgischen Lehrer den Dienst quittiert. Ein Großteil von ihnen, rund 5.000, schied allerdings aus Altersgründen aus. 1.056 Pädagogen wurde gekündigt, darunter 126 wegen einer früheren MfS- Mitarbeit. Die Stasi-Rate in Brandenburg blieb damit bislang gleichfalls weit hinter den ursprünglichen Erwartungen zurück.
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