: Leben ohne Kalorien
Übergewicht ist ein Grund zum Fasten, aber auch die innere Reinigung ■ Von Jürgen Feigl
Schwerwiegend angefettet, die Altlast der täglichen Würstchen- und Bierration auf der Hüfte, fühle ich mich hin und wieder zur Reue bereit. „Gehe in dich und tue Buße“, heißt es in einem alten Bestseller. Für mich kommt in diesem Fall nur die Nulldiät in Frage, und das bedeutet Fasten.
Meine Mutter aus der Kriegsgeneration kommentiert meinen kalorienarmen Entschluß jedesmal verständnislos: „Wir haben in unserem Leben genug gehungert, nie wieder soll...“ Zwangsgehungert wohlgemerkt. So gab es doch gemessen an der Weltgeschichte gerade erst gestern auch durch Naturereignisse und den Rhythmus der Jahreszeiten bedingte Einschränkungen im Überlebensmittelangebot. Und wer geht schon regelmäßig nachts an den Kühlschrank? Fasten bei Nacht ist so selbstverständlich, daß sich keiner mehr fragt, warum die Engländer zum Frühstück breakfast sagen. Fastenbrechen eben. Daß auch heute noch Millionen religiöser Schäflein den Geboten und Verboten ihrer Oberhirten zu Fastenzeit und Ramadan folgen, scheint ebenfalls nicht besonders.
Wer mit religiösen Fastengebräuchen nichts am Hut hat, braucht deshalb noch lange nicht einsam vor sich hin zu hungern. In den letzten Jahren haben sich etliche Vereine und Organisationen gegründet, die mehr oder weniger undogmatisch der Fastenleidenschaft fröhnen und auch Urlaubsreisen anbieten. Voll im Trend liegt Ferienfasten, wenn damit gleichzeitig Radwandern auf Korsika oder Gipfelstürmen in den Alpen verbunden ist. Manche Fastenwochen in solchen Gruppen entpuppen sich allerdings als überteuerte Hungerkuren mit exklusiver Vollpension im Sinne von einer Tasse Bio-Gemüsebrühe am Tag. Aber auch Kurheime und Sanatorien bieten, bezahlt von den Krankenkassen, immer öfter Fasten unter ärztlicher Aufsicht an. Natürlich ist nicht nur Übergewicht ein Grund zum Fasten.
Allein, zu zweit, in der Gruppe, egal ob nun religiös, spirituell, therapeutisch oder auch „nur so“ motiviert: Soweit ein guter Gesundheitszustand vorhanden, kann jeder seinem Körper und Geist die Gelegenheit zur Selbstreinigung geben. Kaum zu glauben, was der Corpus delicti an Giftstoffen ausscheidet, wenn er an seine Reserven geht. Körperschweiß und Mundgeruch können dermaßen ätzend wirken, daß sich Mitbewohner mitunter weigern, sich während der Fastenzeit mit einem im gleichen Zimmer aufzuhalten. Aber auch geistig geht dem Fastenden jede Menge „Dreck“ durch den Kopf. Depressionen wechseln in rascher Folge mit Stimmungshochs. Dieser Art von Selbstbesinnung kann sich niemand entziehen. Sind Körper und Seele erst einmal vom alltäglichen „Verdauungsstreß“ entlastet, werden sogar ungeahnte Kräfte wach. Wandern, radfahren, schwimmen – jede Art, sich zu bewegen, hilft über kulinarische Entzugserscheinungen hinweg und fördert zudem das Bewußtsein für den eigenen Körper. Lebensnotwendige Getränke lassen sich in Form von viel Wasser, Tee und Säften genießen. Einen Monat und länger sorgt das körpereigene Kaloriendepot für den Rest. Beleibtere Individuen können sogar noch Spielzeitverlängerung beantragen.
Nicht zuletzt ist Fasten auch eine Reise in Grenzbereiche mit Höhen und Tiefen, intensiven psychischen und physischen Erlebnissen. Es soll sogar vorkommen, daß nach etwa drei Wochen körpereigene Opiate ausgelöst werden. Vielleicht bin ich zu ungeduldig oder zu wenig standhaft, aber länger als zehn Tage habe ich noch nie durchgehalten. Wer weiß – vielleicht klappt es ja beim nächsten Mal mit dem Rausch.
Bücher zum Thema: „Wie neugeboren durch Fasten“ (Einsteigerbuch); „Fasten und Meditation“ und „Richtig essen nach dem Fasten“, alle Bücher von H. Lützner. Verlag Gräfe und Unzer, 12,80 DM. „Heilfasten“, G. Leibold, Falken-Verlag, 9,80 DM; „Heilendes Fasten“, W. Zimmermann, Drei Eichen-Verlag, 9,80 DM.
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