■ Stadtmitte: Bonner Gesundheitspolitik organisiert Krankheit für das Volk
Das verbale Getöse klang gewaltig. Jetzt ist das Seehofersche Sparkorsett, genannt Gesundheitsstruktur-Gesetz, etwas über einen Monat in Funktion. Die Pharma-Lobbyisten klagen bereits über Umsatzeinbußen von zwanzig bis dreißig Prozent. In der Praxis erleben Patienten wie Ärzte Widersprüche und Unsicherheiten.
Die materielle Substanz dieser Gesundheitsreform 1993 ist schlicht: Die jährlichen Zuwachsraten von rund zehn Prozent in der gesetzlichen Krankenversicherung werden auf rund fünf Prozent gebremst. Für Deutschland stehen daher dieses Jahr nicht 220, sondern nur 210 Milliarden Mark zum Ausgeben bereit. Etwa zehn Milliarden Mark setzten die Krankenkassen letztes Jahr in Berlin um. 1,2 Milliarden Mark kosteten die Arzneien aus Apotheken. In diesem Jahr müssen Krankenhäuser, Ärzte und alle anderen mit 10,5 Milliarden Mark haushalten. Auch der Arzneimittel-Einsatz darf 1,2 Milliarden Mark betragen. Dieser finanzielle Kern des Problems gäbe wenig Anlaß zur Sorge, wenn die Optimierungs-Reserven in der Betreuung kranker Menschen konsequent genutzt würden. Wenn überflüssige, sinnlose oder gar gefährliche Medizin weggelassen wird, ist das Sparziel weit überschritten.
Statt Vernunft und Gelassenheit reagieren jedoch Aufgeregtheit, Frust und Zorn die Beteiligten. Irrationale Verhaltensweisen treten zutage: Patienten beschweren sich über verweigerte Hilfe und Ärzte über aggressive Ansprüche. Mancher läßt seine Wut über die Bonner Politik am greifbaren Opfer aus. Nicht das Geld, die Gefühle agieren zur Zeit und gruppenegoistische Interessen, denen es nie um die Gesundheit der Bürger und immer um den eigenen Gewinn gegangen ist, In der Gesundheitsversorgung ist die rationale Diskussion über die bestehenden Probleme gestört. Eine realistische Problembewältigung gelingt dann erst recht nicht mehr. Dies ist das Versagen der Politik, die mit Vorwürfen statt mit Motivation und mit bürokratischer Schikane statt mit Ermutigung für die Reformkräfte im System arbeitet.
Der faktische Niederlassungsstopp in Berlin ist beispielsweise völlig überflüssig, da das Ausgabenkorsett des Ministers fest hält. Denn Berufsverbot für zuwendungsorientierte und patientenfreundliche Ärzte schadet der Gesundheitsversorgung. Der politische Kern des Gesundheitsstruktur-Gesetzes ist die Verstärkung von Entsolidarisierungstendenzen innerhalb der Bevölkerung. Die Krankenversicherung ist eine Solidargemeinschaft. Aufgabe von Ärzten und Krankenkassen wäre es, eine preiswerte und funktionstüchtige Gesundheitsversorgung zu organisieren. Die Politik hätte die Pflicht, alle Beteiligten auf das sozialpolitische Ziel zu orientieren: Solidarität mit den Armen, Kranken und Schwachen. Genau das aber macht sie nicht, wenn einmal die Ärzte, einmal die Patienten, einmal die Krankenhäuser beschimpft werden. Die Versorgungssektoren bekriegen sich gegenseitig, die Lobbyisten-Interessen blockieren sich wechselseitig, die Nutznießer des fehlgeleiteten Systems boykottieren notwendige Veränderungen, jeder ringt gegen jeden um seinen Vorteil. Statt Solidarität organisiert so die Gesundheitspolitik im Lande die Atomisierung des sozialen Netzes. Im Ergebnis produziert sie Krankheit für das Volk.
Die Ärztekammer Berlin hat den Krankenkassen von Berlin, der Kassenärztlichen Vereinigung und der Berliner Krankenhausgesellschaft einen „runden Tisch“ für die Gesundheitsversorgung der Stadt vorgeschlagen. Er sollte möglichst schnell tagen und dafür sorgen, daß aus dem bisherigen Gegeneinander ein Miteinander wird und die gemeinsame Aufgabe wieder ins Bewußtsein gerät: Es geht darum, für die Bürgerinnen und Bürger eine qualitativ gute Hilfe im Krankheitsfalle sicherzustellen. Ellis E. Huber
Der Autor ist Arzt und Vorsitzender der Berliner Ärztekammer.
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