: Verstehen, wo andere nur urteilen wollen-betr.: "Der Zeitgeist ist Anarchist", taz vom 6.2.93
Betr.: „Der Zeitgeist ist Anarchist“, taz vom 6.2.93
Antje Vollmer irrt. Vollkommen falsch ist die Behauptung, der Zeitgeist sei Anarchist. Die Schiene dieser gespenstischen Vision aber ist alt und wohlbekannt, nicht bloß in libertären Geistesgefilden. Und überdies mutet die Personifizierung äußerst willkürlich an. Das pure Chaos wird vermutet, dort wo Freiheit walten könnte, und felsenfest behauptet.
Das Reich des Bösen wird geortet – Teil deutscher Vergangenheitsbewältigung – und dann noch falsch, bereits hereingefallen in die schwarzweiß gemalte Grube, um die Stimme zu erheben zum zweiten, groben Irrtum: Die „Glücksmomente“ seien es gewesen, als die DichterInnen ihre Auftritte auf der Bühne realpolitischen Schauspiels abzuziehen vermochten. Nein, nein, nein.
Das ist Zeitgeist, der Dichtung von vermeintlich Wahrem trennen will, und der ist Zeitgeist, der da einen ehrt, die andere verdammt – Heiner Müller, Christa Wolf – und nichts als Heuchelei und biedere Verleumdung verkörpert (...wenn „er“ es denn tut). Jens Kastner, Senden
Als seinerzeit die Aufarbeitung der DDR-Geschichte begann, habe ich mir nicht träumen lassen, daß eine Sache so daneben gehen könnte.
Die neuerliche Treibjagd auf Christa Wolf ist nur ein Ausdruck für den gescheiterten Versuch so manches „unfehlbar-allwissenden“ Intellektuellen, das zu verstehen, was in diesem System ablief. Was weiß schon ein Reich-Ranicki von der Wirklichkeit hier in diesen Jahren – sicher – er und andere haben sich einen „Reim“ darauf gemacht. Das aber ist zu wenig, um zu begreifen. Was hier war, ist von außen nicht ohne weiteres zu verstehen (das war selbst von innen oft kaum möglich). Deshalb ist jeder, der sich dazu äußern will, gut beraten, sich in kleiner Runde und ohne Kameras mit Leuten zusammenzusetzen, die hier gelebt haben. Tage- und nächtelang diskutieren bringt uns alle der Wahrheit näher als ein einziges dieser arroganten Feuilletons.
Antje Vollmer jedenfalls hat sicher so manches Gespräch dieser Art hinter sich – vielleicht will sie verstehen, wo andere nur urteilen wollen. Peter Legarth, Ostberlin
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